DIE MARABOUT-SEITE
linie

Laroui, Die Leiden des letzten Sijilmassi
linie
linie
COVER: FOUAD LAROUI: DIE LEIDEN DES LETZTEN SIJILMASSI
linie
Amazon-Bestellung:
Bitte MouseOver-Bild anklicken!
linie

Rezension: → FOUAD LAROUI - Die Leiden des letzten Sijilmassi

Postkoloniale Befindlichkeiten

Adam heißt der Protagonist des soeben erschienenen Werkes Die Leiden des letzten Sijilmassi des marokkanischen Schriftstellers Fouad Laroui. Es ist nach Die alte Dame in Marrakesch sein zweiter in deutscher Übersetzung vorliegender Roman. 1958 geboren, lebt der diplomierte Ingenieur seit den 90er-Jahren in den Niederlanden, deren Staatsbürgerschaft er besitzt und lehrt an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Amsterdamer Universität. Mit Ausnahme eines in Niederländisch verfassten Lyrikbands schreibt der äußerst produktive Fouad Laroui in französischer Sprache. Und diese Tatsache birgt auch schon das ganze Dilemma vieler seiner marokkanischen Landsleute. Kritiker loben Larouis Ausdruckkraft in dieser Sprache, bedenken ihn mit Preisen. Und dennoch, es bleibt ein Haken. Als steckte er im Halse fest und wollte das Aussprechen französischer Laute erschweren.

Vor sechs Jahren veröffentlichte Fouad Laroui einen Essay, der sich mit dem marokkanischen Drama der Sprache beschäftigt: Le Drame linguistique marocain. Darin beschreibt er, womit es ein im Maghreb geborenes Kind sprachlich zu tun bekommt. Die Muttersprache, in die es hineinwächst, kann das Umgangsarabisch oder ein Berberdialekt sein, seltener das Französische, aber früher oder später kommt es auch damit in Berührung, spätestens mit Beginn des Bildungswegs. Hier wird es neben dem Hocharabischen mit der ehemaligen Kolonialsprache konfrontiert, was den heranwachsenden Menschen, wie naturgegeben mit dem eigentlich Nichteigenen "infiziert".

Trotz unterschiedlicher Versuche in den einzelnen Ländern, die französische Sprache zurückzudrängen, findet sie breite Anwendung, sei es in der Sekundarstufe oder an Privatschulen, ganz zu schweigen von den Rückkehrern aus der Migration.

Zurück zum vorliegenden Roman: Adam, der Ingenieur, der Geschäftsmann mit steiler Karriereaussicht beginnt zu hinterfragen: Er vergleicht zum einen das Tempo der umweltverpestenden Blechbüchse, in der er sitzt, mit der Geschwindigkeit eines von einem Esel gezogenen Karrens, der einem durchaus noch in seinem Heimatort Azemmour entgegenwackeln kann und entscheidet sich wider dieses entfremdete Hochgeschwindigkeitsleben und für Entschleunigung. Zum anderen setzt, herausgekitzelt durch die Erinnerung an heimatliche Gefilde, eine Bewusstwerdung ein von der Entfremdung vom Marokkanischen, woraus folgt, dass nahezu jede spontane Eingebung geprägt ist vom europäisch-westlichen Lebenstil, genauer genommen vom französischen, von französischer Literatur, von französischer Philosophie, von französischer Wertung! Das gilt es zu hinterfragen! Schließlich ist er ein Sijilmassi, der letzte Spross einer stolzen marokkanischen Familie!

Als Ergebnis der von nun an noch zwingenderen Reflexion muss sich Adam eingestehen, so ziemlich jeder seiner Gedanken entspringt der westlichen, insbesondere der französischen Kultur. Konkret umgesetzt heißt dies, dass Adam und somit auch der Leser mit Zitaten überschüttet wird. Ob das in der gegebenen Fülle geschehen muss, um dem Leser das Innenleben eines dergestalt Sozialisierten zu illustrieren, mag dahingestellt sein. Zur Erleichterung der Lektüre werden im Anhang besagte Zitate samt Quellen zusammengefasst noch einmal widergegeben. Ein Glossar mit Erklärung der arabischen Begriffe ergänzt den Anhang. Was anfangs wie eine Überforderung mittels Redundanz anschwingt, dämpft sich schnell ab, der Leser öffnet sich dem angeschlagenen Ton und beginnt zu genießen. Hauptverantwortlich dafür zeichnet des Autors Humor, der zwischen Surrealem und Absurdem pendelt und sich nicht auf die eingeschobenen Zitate begrenzt. Er gipfelt in der Aussage, man sei hier nicht in Schweden! Das scheint eine in Teilen der Bevölkerung gebräuchliche Redewendung zu sein, die das Bestreben anzeigt, eigene Kultur und Tradition zu unterstreichen.

Sprachliche Perlen wie "die hier und da hingesäten Minarette, die wie gen Himmel gerichtete Sprengköpfe wirken" sind – den darin enthaltenen Sarkasmus mal ausgenommen – bei Laroui eher selten zu entdecken. Seine Gewichtung liegt weniger in der außerordentlichen beschreibenden Gestaltung als in den bis ins Absurde gehenden Dialogen, insbesondere auch in denen, die – zum Vergnügen des Lesers – im Kopf stattfinden. Während Adams reale Zwiegespräche meist von Ironie und beißendem Spott sowie von Eloquenz und Intellektualität geprägt sind, bezeugt sein innerer Monolog, zersplittert in nicht weniger spöttische und (selbst-)ironische Dialoge, seine Selbstzweifel. Die vor sich her getragene Überlegenheit entpuppt sich als Schutzmauer, als reine Fassade. Er gibt seinen inneren Widersprüchen einen entsprechenden Namen; so heißt ein Kapitelanfang "Stürmische Sitzung im Parlament". Das schizophrene Ich verwandelt sich in einen politischen Debattierclub, in dem der Widerspruch in Permanenz tagt ohne zu einem Ergebnis zu kommen: welch trefflicher Vergleich!

Adams Umwelt reagiert mit Unverständnis auf seinen Versuch, sein Leben radikal zu verändern, allen voran seine schockierte Ehegattin Naïma. Schnell gibt sie zu erkennen, dass ihr weniger an der Person ihres Gatten gelegen ist, als an seiner Position innerhalb einer angesehenen Firma und dem damit verbundenen Wohlstand. Nach einigem Hin und Her, verkompliziert durch die zu Hilfe geeilte Schwiegermutter, lässt sich Adam das Versprechen abringen, bei einem Psychotherapeuten vorzusprechen, dem Gatten einer von Naïmas Freundinnen. Bei diesem wird Adam, der von vorneherein sein Wort nur der äußeren Form nach einlösen will, auf einen Widerspruch innerhalb seiner neuen Orientierung hingewiesen: Ob er als Mensch, als Homo sapiens, entschleunigen will, wird er gefragt, oder als "postkolonialer Marokkaner", der den Westen und seine Geschwindigkeit ablehnt und zum Rhythmus des Lebens seiner Vorfahren zurückkehren will. Das seien doch zwei unterschiedliche Dinge. Ein überlegenswerter Einwand, Adam bleibt trotz Zweifeln bei seinem Entschluss.

Es folgen Ereignisse, denen in der Folge von Adams Umgebung, eine biblische .., Verzeihung: eine koranische Tragweite attestiert wird. So zum Beispiel Adams Anreise ins heimische Azemmour, die per pedes erfolgt oder sein Verweilen in dem altehrwürdigen, inzwischen jedoch baufälligen Riad der Sijilmassi. Eine wenig angemessene Bleibe für den Herrn Ingenieur, bewohnt nur noch von einer ärmlichen, behinderten Tante und einem kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft, um das sich die Alte kümmert.

Auf der Suche nach einem Gegenpol zu europäisch-französischer Kultur und Philosophie beginnt Adam, sich mit arabischen Theoretikern zu befassen. Dabei begegnet er unter anderen Ibn Ruschd, bekannt auch als Averroës aus dem andalusischen, zur Glanzzeit paradiesischen Córdoba, der ihm ekstatische Glücksmomente beschert. Er vergewissert sich des gewichtigen Einflusses arabischer Kultur und Philosophie auf das damals unentwickelte Europa. Des Weiteren pickt seine Rückbesinnung auf berberische, respektive arabische Größe eine erstaunliche Information heraus: Noch im Jahre 1755 verneigte sich einer der größten Philosophen Europas vor der Bedeutung arabischer Wissenschaft, indem er seine Doktorarbeit mit der Bismillah einleitete; dabei handelt es sich um die jedem Koranvers vorangestellte Formel der Anrufung Allahs, des Gnädigen und Barmherzigen. Der besagte Promotionsskandidat war kein Geringerer als Immanuel Kant.

Sich mit geistiger Anregung begnügend, verbleibt Adam im familiären Stammsitz, stoisch wie ein Prophet. Und kommt der Prophet nicht zum Berg, kommt dieser zu ihm, in persona mehrerer merkwürdiger Figuren. Neben Inspektor Basri, der nur nach dem Rechten sehen muss, sind dies ein Nachbar, der seltsamerweise Wasser aus dem ausgetrockneten Brunnen im Hof des Riads schöpft, ein entfernter Verwandter mit seinem tumben Freund, mit denen sich ein religiöser Disput entwickelt, aus dem sich überraschende Wendungen ergeben, die an dieser Stelle nicht verraten werden, nur so viel: Sie sind von prophetischen Ausmaßen und bereiten diesem vergnüglichen Schelmenroman mit Tiefgang ein stimmiges Ende.

Download
RTF-Datei
Postkoloniale Befindlichkeiten

PDF-Datei

Les Tribulations du dernier Sijilmassi, das Original des vorliegenden Romans wurde bereits 2014, im Jahr seines Erscheinens, in Frankreich mit dem Grand Prix Jean-Giono ausgezeichnet.

(Originaltitel: (Les tribulations du dernier Sijilmassi)

11/2016 © by Janko Kozmus
Sie haben dieses Buch bereits gelesen?! Dann beteiligen Sie sich bitte mit einem Votum für dieses Buch an der BESTEN-LISTE afrikanischer und arabischer Literatur auf der MARABOUT-SEITE !
linie
Weitere Rezensionen zu Werken von Autoren aus dem Maghreb:
linie

linie