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Doppel-Rezension: → Jean-Marie Gustave Le Clézio - Der Afrikaner und Onitsha

Vater und Sohn

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Der Überraschungsnobelpreisträger dieses Jahres Le Clézio bietet dem Leser mit zweien seiner Bücher nicht nur spannenden Lesestoff, sondern gleichzeitig hervorragendes Anschauungsmaterial für die künstlerische Umsetzung eigenen Erlebens in Literatur.

Im Jahre 1948 reist der damals Achtjährige mit seiner Mutter und seinem nur wenig älteren Bruder nach Nigeria zu seinem Vater, den er bis zu diesem Treffen nicht einmal kannte. Als Arzt war der zunächst in Kamerun tätig und anschließend in Nigeria. Die Reise und der folgende etwa anderthalb-jährige Aufenthalt wird den Menschen und Autor Le Clézio nachhaltig beeindrucken und in einem Ausmaß beschäftigen, dass er fortan von der Periode vor und der Zeit nach Afrika sprechen wird. Wie verarbeitet der Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio diese Reise, das Treffen mit seinem Vater?

Im Jahre 1993 erscheint in Paris das Original des Romans Onitsha, zwei Jahre später die deutsche Übersetzung. Im Mittelpunkt dieses Buches steht der zwölfjährige Fintan, der mit seiner italienischstämmigen Mutter Maou seinen britischen Vater Geoffroy in Nigeria besucht. Auch dieser Bursche hat seinen Vater vorher nicht gekannt und auch ihm fällt es - wie seinem jüngeren realen Gegenbild - schwer, den äußerst autoritären Fremden als Vater zu akzeptieren.

Während Le Clézios realer Vater den Sinn seines Lebens im ärztlichen Engagement fand, konstituiert sich Geoffroys Sein aus seiner Beschäftigung mit dem Mythos der Schwarzen Königinnen von Meroë. Seine diesbezüglichen Forschungen und vor allem die geografische Nähe zum mutmaßlichen Zielgebiet des Auszugs der letzten Schwarzen Königin mit ihrem Volk, lässt ihn den wenig geliebten Alltag als Angestellter einer britischen Handelskompanie, der den Umgang mit der örtlichen Kolonial-Aristokratie notgedrungen einschließt, überhaupt erst ertragen. Die Abneigung gegen die Vertreter und Nutznießer des britischen Empires bringt ihn und seine Frau, Fintans Mutter Maou, zunehmend in Bedrängnis. Zunächst ist es Maou, die den menschenverachtenden Umgang der Weißen mit den Einheimischen offen verurteilt und sogar so weit geht, sich mit der jungen Außenseiterin, der taubstummen Oya anzufreunden. Doch bald ist es auch Geoffroy, der mit seiner zutiefst antikolonialen Haltung aneckt und befürchten muss, seine Anstellung zu verlieren. Während Oya als Symbol für die Schwarzen Königinnen, Geoffroys Gegenspieler Rodes geht sogar soweit, diese als Nachfahrin der Königinnen vom Nil zu bezeichnen, die beiden Stränge des Romans - Mythos und koloniale Gegenwart - miteinander verknüpft, verbindet die antikoloniale Haltung des Vaters diesen Roman mit dem autobiografischen Bericht Der Afrikaner. Das väterliche Lebensmodell in beiden Büchern basiert auf dem Prinzip der Solidarität mit den Landesbewohnern, unmittelbar umgesetzt im Arztberuf und mittelbar in der Stützung einer These, die ein westafrikanisches Volk als legitimen Nachfolger der meroischen Hochkultur Kusch zu etablieren versucht. Dank Le Clézios hautnaher Beschreibung dieses Themas in formal und stilistisch vom Hauptteil getrennten Einschüben überträgt Geoffroys Begeisterung sich auf den Leser. Eine der wenigen Situationen, in denen ein Gefühl wie Nähe zwischen Vater und Sohn spürbar wird, entsteht, als Geoffroy - völlig im Thema aufgehend - Fintan von der letzten Königin erzählt.

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Mehr noch als im Roman kommt die Problematik der Annäherung des Sohnes an seinen Vater - verstärkt durch dessen vom Krieg aufgezwungene lange Abwesenheit - im autobiografischen Bericht Der Afrikaner zum Ausdruck. Das Buch erschien im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung, drei Jahre nach Veröffentlichung des gleichnamigen Originals. Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Vater liegen in dessen widersprüchlicher Haltung begründet. Als Arzt und Mensch lehnt er die menschenverachtende Kolonialpolitik ab, eisern aber hält er als Familienoberhaupt an Disziplin und Gehorsam bis hin zur körperlichen Züchtigung fest und macht es seinen Kindern und auch seiner Frau nicht leicht, ihn zu lieben. Le Clézio erzählt von den sich aufwerfenden Gräben. Auf der einen Seite stehen sein Bruder und er selbst, auf der anderen der Vater, die Menschen des Landes, selbst mit der Natur müssen sie sich erst einmal vertraut machen. Gleichzeitig tut sich den Brüdern eine vollkommene Freiheit auf. In wilden Spielen kosten sie diese aus. Sobald sie aus den Lektionen der Mutter entlassen waren, seien sie in die Termitenstadt gestürmt und hätten wie Besessene mit Stöcken auf die Termitenhügel eingeschlagen und diese zerstört, wieder und wieder. Eine Episode, die der Autor ähnlich auch in seinen Roman Onitsha aufnimmt. Da allerdings wird das Einzelkind Fintan von seinem nigerianischen Freund Bony auf die Schändlichkeit seines Tuns und auf die spirituelle Einheit jedes Wesens mit der Natur hingewiesen.

Naturgemäß ist der Ton in dem autobiografischen Bericht Der Afrikaner sachlicher, jedoch von angenehmer Frische, die nicht zuletzt daher rührt, dass Le Clézio dem Leser keine fertigen Antworten offeriert, sondern sich immer wieder fragt, wie es zu der ein oder anderen Wandlung in der Grundhaltung seines Vaters gekommen sein mag. Zu den ansprechendsten Passagen zählt die Beschreibung des Sohnes von der Liebe seiner Eltern zueinander. In ihr zeigt sich am deutlichsten Le Clézios Fähigkeit, das Schöne in analytischer Klarheit zu bewahren und nicht der Versuchung sprachlicher Ausschweifung zu erliegen. Noch weniger erkennbar sind Zeichen einer Aufopferung der vom Vater vorgefundenen Wirklichkeit auf dem kollektiven Altar überkommener westlicher Vorstellung vom prickelnden Kolonialleben. Keine sonore Stimme belebt die Erinnerung an ein romantisiertes Afrika, indem sie dem Leser etwa ins Ohr flüstert: Damals auf den Hochplateaus von Kamerun ... Nichts davon, nicht "verschwommene(n), idealisierte(n) Erinnerung" dränge sich dem Berichterstatter auf, sondern ganz konkrete Bilder: "die Dörfer, die Gesichter der Greise, die geweiteten Augen von an Ruhr leidenden Kindern, der Kontakt mit all diesen Körpern, der Geruch der menschlichen Haut, das klagende Geflüster".

Im Lebensbericht Der Afrikaner ist fast ausschließlich von Le Clézios Familie die Rede, der Roman Onitsha präsentiert ein buntes Beziehungsgeflecht. Neben Fintans Freund Bony, der betörenden Oya, dem eigenwilligen Rodes mit dem für deutsche Leser irritierenden männlichen Vornamen Sabine sei an dieser Stelle noch dessen schwarzer Hausangestellter Okawho erwähnt, da seine Person für den Vater wie für den Sohn eine ähnlich große Bedeutung einnimmt.

Okawho ist es, der Geoffroy auf der Flussfahrt nach Norden begleitet. Das Ziel ist das Orakel von Aro Chuku, der Ort, an dem der von der letzten Schwarzen Königin geleitete Auszug aus Meroë nach der Zerschlagung durch die Krieger von Aksum im vierten nachchristlichen Jahrhundert geendet haben soll. Okawho ist es auch, der Oya auf dem gestrandeten Schiff des Britischen Imperiums schwängert. Fintan ist nicht nur Zeuge dieses Ereignisses, sondern auch der Geburt. Oya war aus der örtlichen Krankenstation geflüchtet, um auf dem Wrack unterzuschlüpfen, wo sie gelebt hatte, bis Sabine Rodes sie in sein Haus aufnahm. Zeugung und Geburt verstören Fintan so sehr, dass er beide Male davonrennt.

Im autobiografischen Bericht Der Afrikaner erzählt Le Clézio von seinem Außenseiterdasein an der Schule nach seiner Rückkehr aus Afrika. Er berichtet von den klugen Jungen, die vom wirklichen Leben jedoch wenig wussten. Aus ihren übermütigen Ausführungen vom weiblichen Körper war ihre diesbezügliche Unkenntnis herauszuhören.

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Vater und Sohn
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Nüchtern und bewegend zugleich beschreibt der Sohn Jean-Marie Gustave den letzten Lebensabschnitt seines realen Vaters: Der früher aufopferungsvoll um seine Patienten kämpfende Arzt identifiziert sich vollständig mit diesen, indem er selbst zum Patienten wird. Den man lieben kann und darf, möchte man hinzufügen.

(Originaltitel: »L'Africain« und »Onitsha«)

12/2008 © by Janko Kozmus
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