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Yvonne Adhiambo Owuor, Der Ort, an dem die Reise endet
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Rezension: Yvonne Adhiambo Owuor- Der Ort, an dem die Reise endet

Fern vom richtigen Kenia

Der Ort, an dem die Reise endet ist das Romandebüt der in Nairobi geborenen kenianischen Autorin Yvonne Adhiambo Owuor. Von besonderem Interesse erscheint die Publikationsgeschichte dieses Erstlings, die genau genommen bereits vor etwa einer Dekade ihren Anfang nahm: Im Jahr 2003 gewann Owuor mit Weight of Whispers den hochdotierten britischen Caine-Literaturpreis für Kurzgeschichten, der jährlich an englisch schreibende afrikanische Autoren verliehen wird. Kenias Literaturszene feierte dieses Ereignis enthusiastisch als Double. Ein Jahr zuvor war nämlich Binyawanga Wainaina, Owuors kenianischer Schriftstellerkollege für seine Short story Discovering Home mit demselben Preis bedacht worden. Bei diesem Kollegen handelt es sich um den Begründer des Literaturmagazins Kwani, bei dessen gleichnamiger Stiftung Dust, die englischsprachige Originalausgabe des vorliegenden Buches, im Jahre 2013 zunächst erschien. So verwundert es nicht, dass in Owuors langer Dankes- und Würdigungsliste, die dem Erzähltext vorangestellt ist, Binyawanga Wainaina einen besonderen Platz einnimmt. 2014 erfolgte dann die us-amerikanische Edition, bevor die deutsche Übersetzung Der Ort, an dem die Reise endet in diesem Jahr veröffentlicht wurde.

Der Rahmen für diesen mit prallem Leben angefüllten Roman ist schnell gesteckt. Ajany kehrt aus Brasilien in ihre kenianische Heimat zurück, Jahre nachdem sie diese verlassen hatte. Anlass ist der Tod ihres innig geliebten Bruders Odidi. Wenngleich auch andere Handelnde einen breiten Erzählraum einnehmen, so steht doch eindeutig das Geschwisterpaar im Vordergrund: ’Didi nennt die Schwester ihren vier Jahre älteren brüderlichen Held und Erbauer magischer Welten, während er sie meist liebevoll, mitunter auch spöttelnd ’Jany ruft. Vor dem Hintergrund des Trauerfalls wird in Reflexionen und Rückblenden die Geschichte der Familie Oganda geschildert, deren vielfache Wendungen und Brüche denen von Kenia folgen und damit eng verschlungen sind mit der ehemaligen Kolonialmacht, die wiederum durch das britische Ehepaar Bolton personifiziert wird.

Das komplizierte Handlungsgeflecht entwickelt sich zwischen zwei gesellschaftspolitischen Polen: auf der einen Seite die brisanten Ereignisse vor und während des Unabhängigkeitskampfes und auf der anderen die Geschehnisse im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Ende 2007, als Kenia durch landesweite Unruhen erschüttert wird. Allerdings geht es dieses Mal nicht um koloniale, sondern um hausgemachte Probleme, allen voran die allgegenwärtige Korruption. Im privaten Bereich entspricht dies zum einen der Zeit des Baus von Wuoth Ogik, welches den Hauptfiguren Ajany und Odidi das elterliche Heim bedeutet und gleichzeitig diesem Roman als Titelvorlage dient. Den anderen Pol bildet die Gegenwart, die mit einer eindrucksvollen Szene einsetzt, einer Hetzjagd; sie zeichnet die letzten Minuten des Überlebenskampfes von Ajanys Bruder nach. Turbulent sind beide Zeitabschnitte sowohl im Privaten als auch im Gesellschaftlichen, Phasen des Auf- und Umbruchs, der Hoffnungen, des Schmerzes und der Desillusionierung.

Eine regelrechte Zäsur in der noch brüchigen politischen Kontinuität der besagten Periode bedeutet das Jahr 1969. Kenia ist gerade mal sechs Jahre unabhängig, da wird eine der wenigen herausragenden Persönlichkeiten ermordet, ein Gewerkschafts- und Parteigründer, neben Jomo Kenyatta die Lichtgestalt des Landes: Tom Mboya. Viele von Kenias Bewohnern verlieren mit ihm ein Vorbild, mit dem Verlust der Hoffnung auf die Zukunft werden aus glühenden Verfechtern für ein freiheitliches und gerechtes Land Mitläufer und aktive Teilhaber der wuchernden Korruption, einer von ihnen scheint Nyipir zu sein, der Vater von Ajany und Odidi. Doch wird im Verlauf der Handlung deutlich, dass die Fackel für den Kampf um Gerechtigkeit an den krimineller Machenschaften verdächtigten Odidi weitergereicht wurde.

Einem Urknall gleich entwickelt sich die Romanhandlung aus diesem einzigen, aus familiärer Sicht tragischen Ereignis: Odidis Tod. Es folgen: die Rückkehr seiner Schwester aus der Migration, wobei offen gelassen wird, ob sie auf Dauer bleiben möchte, ihr Zusammentreffen zunächst mit dem Vater in Nairobi, um den Leichnam zu identifizieren und ihn anschließend nach Wuoth Ogik zu überführen, dann mit der Mutter Akai-ma, die vor Schmerz wahnsinnig zu werden droht und die Tochter nicht erkennt oder nicht erkennen will; schließlich das Wiedersehen mit dem alten Diener auf dem elterlichen Gut. Lediglich das Eintreffen eines gewissen Isaiah – just zur selben Zeit – hat nichts mit Odidis Tod zu tun.

Unverständlich erscheint, weshalb Nyipir, der gegenwärtige Eigentümer von Wuoth Ogik diesen Isaiah am liebsten gleich wieder loswerden möchte. Seine aggressive Haltung ihm gegenüber verblüfft Ajany, die den Fremden mit dem Familiennamen Bolton zunächst distanziert, aber höflich behandelt; sie setzt durch, dass dieser als Gast aufgenommen wird und die Recherche seine eigene Familie betreffend aufnehmen kann. Im Haus befinden sich Bücher eines gewissen Hugh Bolton und Odidi scheint Isaiah dies brieflich mitgeteilt zu haben. Die Auflösung der Verstrickung beider Familien, der einheimischen und der kolonialen, kann beginnen. Im Verlauf dieses buchstäblichen Entwirrspiels - so viel sei an dieser Stelle verraten - überwinden Ajany und Isaiah die anfängliche Distanz, geraten bald aneinander, bekämpfen sich mit ungehemmter Hingabe und nähern sich erneut an.

Die zentrale Bedeutung des Ortes Wuoth Ogik wird schon durch die Titelwahl unterstrichen; Wuoth Ogik ist der suahelische Ausdruck für Der Ort, an dem die Reise endet. Im Romanfortlauf treten andere Orte zeitweilig in den Vordergrund, doch immer wieder zieht das inzwischen marode Wuoth Ogik den Fokus auf sich. Eingebettet liegt es in einem kargen, wüstenhaften Gelände und erinnert landschaftlich – und auch kulturell – eher an die Nachbarländer Somalia und Äthiopien als ans "richtige" Kenia. "Wir gehen ins richtige Kenia", sagt Ajany zu ihrem Bruder in einer der Rückblenden, als beide den Fluss überqueren, der die Grenze zum nördlichen Teil des Landes markiert, um in ein Internat zu wechseln.

Yvonne Adhiambo Owuor ändert beständig die Erzählperspektive. Wiewohl sie meist bei den Hauptfiguren verweilt – neben den Geschwistern sind dies vor allem deren Vater und besagter Isaiah, ein Brite mittleren Alters -, bezieht sie zahlreiche Nebenfiguren mit ein, sodass sich aus der Polyphonie des Privaten ein gesamtgesellschaftliches Bild Kenias abzeichnet, voller Widersprüche und Eigenarten, changierend zwischen kolonialer sowie selbstbestimmter Vergangenheit auf der einen und der globalisierten Gegenwart auf der anderen Seite, zwischen Magie und Überlebenskampf, die wiederum im Privaten münden: die Abdankung gesellschaftspolitischen Anspruchs zugunsten von Resignation, die früher oder später vermeintlichen Alternativen kriminellen Natur Tür und Tor öffnet.

Wie sehr die Autorin mit der beschriebene Region verbunden scheint, zeigt sich einmal in ihrer stilsicheren Beschreibung – umgeben von knorrigen Schirmakazien und Doumpalmen spürt der Leser Dürre und Trockenheit förmlich am eigenen Leibe – und zum anderen in dem Umstand, dass sie den Namen der dortigen Wüste, Dida-Galgalu, in zweien ihrer Nebenfiguren verewigt: Galgalu, der Diener, der schon länger in Wuoth Ogik weilt als das Geschwesterpaar, eine Personifizierung von Tradition und Herzensgüte, die egoistische Interessen nicht ausschließt und Ali Dida Hada, Intimfeind Nyipirs, Nebenbuhler um seine Frau Akai und als Polizist ein typisches Beispiel für die verschwimmenden Grenzen zwischen Gesetzestreue und einer Haltung, die bedenklich davon abweicht.

Überraschende Wechsel im Erzählstil erfordern eine hohe Konzentration beim Lesen dieses – und das drängt sich nach wenigen Seiten auf – grandiosen Romans. Viele der Zeitsprünge werden mit einem prosaischen "jetzt" oder "vor langer Zeit" eingeleitet, um anschließend den Text in teils eruptiver, teils stakkatoartiger Erzählweise hervorbrechen, gelegentlich auch episch breit dahinfließen zu lassen, wie in der Beschreibung von Akai-ma: "Ihre Bewegungen sind bedacht, fließend wie Magma aus dem Kern der Welt. Groß, gertenschlang, mit einer Wespentaille und großen, immer noch festen Brüsten sieht sie aus, als sei sie aus der Erde selbst entstanden, und ihre Haut hat dieselbe Farbe. Es liegt etwas Wildes in den dunkelbraunen Augen, sodass noch ihr sanftester Blick eine versengende Wirkung hat."

Trauer und Melancholie durchziehen fast den gesamten Roman, ohne je ins Wehmütige abzugleiten, das verhindert schon die auf nahezu jeder Seite zu verspürende Leidenschaft. Und auch Sehnsucht wird artikuliert, wie beispielsweise jene von Nyipir, der noch als alter Mann davon träumt, seinem Vater und seinem Bruder nach Burma, wohin sie einst als Soldaten der britischen Kolonialmacht entsandt wurden, zu folgen, um sie heimzuholen. Und ganz zuletzt frischt – zur wohltuenden Überraschung des Lesers – der Wind auf, erleichtert Neuanfänge.

Mit Der Ort, an dem die Reise endet wurde dem Leser einer jener großartigen Romane gegeben, die er, am Ende angelangt, tatsächlich wieder von vorne zu lesen beginnt, fasziniert von der explosiven Vielfalt und im deutlichen Gefühl, nicht alle Nuancen, seien es sprachliche Finessen oder landesspezifische Besonderheiten, erfasst haben zu können!

(Originaltitel: »Dust«)

10/2016 © by Janko Kozmus

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