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Nadine Gordimer: Keine Zeit wie diese
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Rezension: → Nadine Gordimer - Keine Zeit wie diese

Speere der Nation

Im Mittelpunkt des Romans Keine Zeit wie diese der 89-jährigen südafrikanischen Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer steht das Paar Jabulile und Steve. Letzterer ist Spross einer weißen Mittelstandsfamilie, Naturwissenschaftler, sie ist die Tochter eines schwarzen Kirchenführers und arbeitet als Grundschullehrerin mit Ambitionen auf den Anwaltsberuf. Kennen gelernt haben sich die Beiden in Swasiland, wo sie zunächst ihre Ausbildung absolvierte, später war es ihnen beiden Rückzugsgebiet während der Unterbrechungen des Kampfes gegen die Apartheid, der jetzt hinter ihnen liegt.

Inzwischen verheiratet, haben Jabu und Steve durch einen Genossen von einem günstigen Angebot gehört, sich in ein Häuschen einmieten zu können, das in einem jener Vororte gelegen ist, die früher der weißen Oberschicht vorbehalten waren. Nach einigem Zögern, Ausdruck ihrer Schwierigkeit, sich in die neue Rolle einzufinden - entschließen sie sich dazu, sodass ihr erstes Kind, das auf den Namen Sindiswa hört, ein Mädchen, schon in der neuen Umgebung heranwächst. Stolze Großeltern, Freunde und Bekannte schaffen einen vertrauensvollen Hintergrund für die kleine Familie. In der Nachbarschaft hat sich eine kleine Schwulenkolonie etabliert, an deren Swimmingpool sich Freunde und Genossen sporadisch treffen, um sich über persönliche Probleme, mehr aber noch über gesellschaftliche Tendenzen auszutauschen. Und schnell wird deutlich, nicht zuletzt vermittelt über die sehr präzise, geradezu faktenversessene, deshalb aber nicht weniger subtile Schreibweise der Altmeisterin, wie wichtig zumindest die Genossen in diesem Kreis die gesellschaftliche und politische Entwicklung ihres Landes nehmen. Was dem mitteleuropäischen Leser zunächst befremdlich anmuten mag, der beständige Verweis auf das "Genossen-Bewusstsein" der Hauptfiguren - den Begriff "Klassenbewusstsein" vermeidet Gordimer -, wird allmählich in eine selbstverständliche Akzeptanz verwandelt, da die Protagonisten noch die kleinste Alltagsangelegenheit mit dem Maß der einmal - im Widerstand - gesteckten Ideale messen, ohne in den Fehler zu verfallen, sich Unmögliches abzuverlangen; gewisse Abstriche gehören in den geregelten Ablauf einer zivilen Gesellschaft. Abgesehen davon, dass das junge Paar ohnehin beständig in einem Meinungsaustausch steckt, der weit über übliche Familienbelange hinausgeht, wird in besagter, keineswegs geschlossener Schwulengemeinschaft über Politik im Allgemeinen oder über Stadtstreicher und Hausbesetzer als Ausdruck verfehlter lokaler Sozialpolitik im Besonderen diskutiert. Letztere gehören übrigens zumeist der ca. drei Millionen überwiegend illegal eingewanderten simbabwischen Volksgemeinschaft an.

Besonders fein herausgearbeitet ist die Beziehung zwischen Jabu und ihrem Vater, ihrem Baba, einem christlich-methodistischen Kirchenführer. Der Vater steht einmal für die Tradition, für das Zusammengehörgkeitsgefühl in der Familie. Diese immer wieder zu besuchen, ist für Jabu eine Herzensangelegenheit, die in dieser Form in der Familie ihres Mannes, den Reeds, so nicht gegeben ist. Gleichzeitig steht Jabus Vater für das neue, schwarze Südafrika, das sich öffnet und der Bevölkerungsmehrheit Bildung und Aufstieg ermöglichen möchte. So war es ihr Vater, der Jabu nach Swasiland schickte, wo für ein schwarzes Mädchen bessere Chancen der Bildung gegeben waren. Bei diesem Vater holt sich die Tochter oft und gern Rat. Bevor sie sich eine endgültige Meinung zu einem Thema bildet - seien es Übergriffe der einheimischen Bevölkerung gegen simbabwische Illegale oder andere, auf den ersten Blick von Fremdenhass geleitete Gewaltausbrüche oder aber die Korruptions- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen einen gewissen Jacob Zuma, der inzwischen an der Spitze des machtvollen African National Congress (ANC) angekommen ist, jener Organisation, deren militärischen Arm die Eheleute angehörten. In zwei der elf südafrikanischen Amtssprachen, in IsiZulu und isiXhosa hieß diese Organisation Umkhonto we Sizwe - Der Speer der Nation. Immer wieder, immer dann, wenn Jabu und Steve Orientierung in der alten kämpferischen Zeit für aktuelle Probleme suchen, streut Gordimer dieses Umkhonto we Sizwe in den Text ein, förmlich eine Beschwörung. Auch dieser Jacob Zuma scheint nun zum Problemfeld zu gehören, jedenfalls für Jabu, der es dieses Mal schwer fällt, der Meinung ihres Vaters zu folgen, der Zuma noch aus Zeiten gemeinsamen Engagements auf regionaler Ebene kennt und von einer Schmutzkampagne gegen den hochrangigen Politiker überzeugt ist. Doch allein Zumas abenteuerlich-diskriminierende Ansichten Frauen gegenüber verletzen Jabu aufs Tiefste persönlich.

Der Roman Keine Zeit wie diese wird von einer sprachlichen und inhaltlichen Dichte getragen, dass er, ohne das Gefühl von Sprüngen zu erzeugen, mühelos etwa fünfzehn Jahre Handlungszeitraum überbrückt. Ein zweites Kind wird geboren, ein Junge namens Gary Elias. Jabu steckt im Jurastudium und Steve doziert als Assistenzprofessor in einem Fach, das ihn im Widerstand zu einem äußerst bedeutenden Mitglied machte: in Chemie. Irgendwann, ein in der Universitätshierarchie über ihm stehender Kollege fällt aus, wird er - eine Auszeichnung! - auf eine wissenschaftliche Tagung nach London geschickt, wo er sich unversehens den Verlockungen eines Seitensprungs ausgesetzt sieht, mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Doch dieser universitären Ehrung, der Tagung, nicht der Verlockung durch die für die Tagungsteilnehmer verantwortliche äußerst attraktive Kollegin, folgen keine weiteren. Im Gegenteil, beim nächsten Karriereschritt wird Steve übergangen. Vielleicht führt dies zu seinem geheimen Entschluss, überraschend für den Leser, schockierend für Jabu. Sie findet Zeitungsausschnitte für Bewerbungen und sonstige Tipps für die Einreise nach Australien. Steve scheint mit der Möglichkeit zu jonglieren, es vielen Anderen gleichzutun, die sich im Ausland bessere berufliche Chancen ausrechnen als in diesem Land des Umbruchs, keine Zeit wie diese!

Als sich der Verdacht erhärtet, schließlich die Ausreise offen diskutiert wird und Jabu sich trotz abwertender Bemerkungen ihres Baba dazu entschließt, ihrem Mann zu folgen, wohin seine beruflichen Interessen ihn auch führen, wirkt der dann gemeinsam gefasste Entschluss wie ein Lupe, unter der die Widersprüche im Lande noch stärker zu Tage treten. Insbesondere die Korruption und die bereits angesprochene illegale Einwanderung aus Nachbarländern macht dem Land und den ehemaligen Genossen zu schaffen, die nicht bereit sind, ihre einstigen Ideale zu vergessen. Die Situation eskaliert, Gewalt gegen die Ausländer wird geschürt, bricht aus, viel ist von Fremdenhass die Rede. Jabu macht nicht Xenophobie, sondern Armut und Arbeitslosigkeit für diese Problematik verantwortlich. Da bricht diese auch in ihr Leben, indem ein Illegaler sich Zutritt zu ihrem Heim verschafft.

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Und schließlich steht der große Tag vor der Tür, die Präsidentschaftswahlen vom 22. April 2009. Gibt es eine Alternative zum ANC? Und der ANC, das ist Jacob Zuma. Ist es bei diesen Aussichten nicht das Vernünftigste, das Land zu verlassen? Erstaunlich wenig Kritik an diesem Entschluss kommt aus dem freundschaftlichen Umfeld, allerorten Verständnis für das Verfolgen des kleinen persönlichen Glücks. Bis zur letzten Seite wird der Leser dieses aktuellen politischen Romans darüber im Unklaren gelassen, ob die Familie das Land tatsächlich verlassen wird. Die Vorbereitungen sind jedenfalls getroffen.

(Originaltitel: No Time Like The Present)

12/2012 © by Janko Kozmus
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Nadine Gordimer in der Afrika-Chronik der Marabout-Seite:
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