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al-Koni Die verheissene Stadt
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Rezension: → Ibrahim al-Koni - Die verheissene Stadt

Das andere Opfer

Fünf Jahre nach dem Erscheinen seines als Hauptwerk geltenden Epos Die Magier verfasste der libysche Autor Ibrahim al-Koni 1997 den Roman Die verheissene Stadt, der als Gegenstück zu jenem gelesen werden kann. Während Die Magier mit dem Untergang der Stadt und der Wiederaufnahme des Wanderlebens endet, beschreibt der erst jetzt in Deutsch erschienene und von Hartmut Fähndrich hervorragend übertragene Roman die Entstehung von Tân Amghâr - die Stadt des Stammesführers -, genannt auch das »Kleine Wâw«, wobei »Wâw« für das Paradies steht. Vorgeschichte und Entstehung der Stadt folgen einem Weg voller Widersprüche, in denen al-Konis Figuren gefangen sind zwischen Sehnsucht und Liebe einerseits und dem Gesetz der Ahnen, der Schicksalhaftigkeit, der Entsagung, der Opfer und der Zwänge des Wüstenlebens, zu deren verheerendsten die Dürre zählt, andererseits. Nur einer stellt sich gegen die Gesetze des Stammes und seiner Ahnen: der Führer selbst. Er widersetzt sich gar dem wichtigsten, dem Gesetz des Wanderns und legt damit den geistigen Grundstein für die Gründung der Stadt.

Vor dem Akt der Auflehnung standen viele der Anpassung. Der Tradition folgend musste er als Schwesternsohn des verstorbenen Führers gegen seinen Willen dem Wohl des Stammes dienend sein isoliertes Dichterleben aufgeben; das erste Opfer, dem andere folgen sollten. Am Morgen nachdem »sie« ihm auch das letzte Geheimnis genommen haben, sein »Püppchen«, seinen Vogel, der ihm im Ginsterwadi das Lied des Unbekannten sang, muss der Seher vor den Stamm treten und verkünden: »Amghâr jasâranaghên! Der Stammesführer ist uns vorausgegangen!«

Gemäß der Tradition wird dem Verschiedenen eine Jungfrau »vermählt«. Durch ihren Mund spricht er zu seinem Stamm, sodass der Führer auch nach seinem Tod dessen Geschicke bestimmt. Den Sinn seiner Worte zu begreifen, ist nicht immer einfach und wirft das Grundproblem der Prophetie auf und schürt einen Streit, der im Stamm immer wieder aufflammt: Sind die Worte der Prophezeiung symbolisch oder buchstäblich zu verstehen?, eine Aufgabe, deren Lösung für den Seher bestimmt zu sein scheint und eine Gelegenheit für den Autor al-Koni, seinen feinen Humor spielen zu lassen. Wie überhaupt häufig die weit gefächerte Symbolik eine Brechung erfährt oder wenn man so will: eine Ergänzung, eine Beimengung von spöttischem Schicksalgrinsen, eine Art Don quichotterie. So gibt sich der Stammesführer bei seinem letzten symbolhaften Auftritt - er hält, ohne sich dessen bewusst zu sein, einen toten Vogel in der Hand, Symbol für den Verlust seines wertvollsten Guts - fast der Lächerlichkeit preis, trotz des großen Respekts, den er bei dem Stamm und seinen Ältesten genießt.

Wiewohl der Beziehung der beiden wichtigsten Personen des Stammes, Seher und Stammesführer, gemäß ihrer Bedeutung vom Autor viel Entfaltungsraum gegeben wird, tritt neben ihnen eine Vielzahl von Charakteren auf, wie »die Liebenden«, »der Schwarzgekleidete«, »der Gräber« oder »der Liebende der Steine«, die im Verfolgen persönlicher Motivationen den verschlungen Pfad der Vorsehung austreten, die auf ein einziges Ziel hinweist. Den beiden Protagonisten jedoch gilt das schönste und gleichzeitig eines der zentralen Kapitel des Romans: die imaginäre Reise in die von Wasser gesegnete Westliche Hammâda, in dem einmal mehr dialektische Gegensatzpaare gegeneinander gewogen werden.
Nach einer langen Periode der Dürre wird der Seher vom Stammesführer zu dieser Wanderschaft eingeladen. Täler und Hügel werden überwunden, der Führer spricht zum Seher, ohne »die Worte mit der Zunge zu besudeln«. Und er gesteht ihm seine Anhängerschaft zu Wantahît. Dieser gelte dem Stamm zwar als »Ewiger Feind«, aber habe man sie nicht gleichzeitig gelehrt, er habe als erster erklärt, »er tue nichts Gutes, weil er wisse, dass es sich in Schlechtes verwandelt, er tue nur Schlechtes, weil er sicher wisse, dass das Gesetz der Gegensätze daraus etwas Gutes macht?« Bevor der Stammesführer den Priester zuletzt verführt, vom Wasser des Vergessens zu trinken, darf der Leser den schönsten Dialogen des Buches folgen, voller feiner Ironie, behutsamer Vorwärtsbewegung, einen Schritt nach vorne, wieder zurück, seitwärts tastend, wieder vorwärts, als wollte der Sprecher sein Gegenüber nicht mit seinem unmaßgeblichen Begehren überfallen, selbst dann und gerade dann, wenn er eine Absicht verfolgt.

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Das andere Opfer

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Als der Seher von seiner Wanderung zurückkehrt, ist er dem Vergessen anheim gefallen. Kein Opfer, ein Stück Freiheit, wie man dem Motto des Kapitels entnehmen kann, das al-Koni dem libanesischen Autor Gibran Khalil Gibran entlehnt hat: »Das Vergessen ist eine Form von Freiheit«. Des Sehers Opfer ist von anderer Art. Überhaupt ist viel von Opfern in diesem Buch die Rede, bevor die Stadt entstehen kann. Der Himmel verlangt sein Opfer, um die Dürre zu beenden und der geheiligten Erde muss ein Blutopfer gebracht werden, damit sie ihr »Blut«, das Wasser spendet. Und letztlich opfert der Stamm seine Sehnsucht nach dem großen, dem himmlischen Wâw, dem Ziel jeden Wanderns der Realisierung dieses »Kleinen Wâw«. Wie an vielen andern Stellen überlässt Ibrahim al-Koni auch hier dem Leser die Entscheidung, was schwerer wiegt oder anders ausgedrückt: Wäre die Stadt je entstanden, wären sich die Handelnden über die tatsächliche Gestalt des erforderlichen Opfers im Klaren gewesen?

(Originaltitel:
Wâw al-sugrâ)

12/2005 © by Janko Kozmus
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  Ibrahim al-Koni: Kein Getier auf der Erde (zu: Blutender Stein) 

Und zur Autobiographie eines Tuareg-Führers:

  Mano Dayak: Sand in den Augen? (zu: Geboren mit Sand in den Augen)

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