Leben und Werk. Werk ohne Leben
Wie nicht anders zu erwarten finden
sich auch südlich der Sahara Autoren, deren Biografie größere
Aufmerksamkeit erregt als ihr Werk. Zuallererst fällt
mir einer der großen alten Männer ein – guess who?!
Im gleichen Atemzug der – obgleich enfant terrible dieser Region
– weit weniger bekannte Dambudzo Marechera. Zu behaupten, die
Drei wiesen mehr Gemeinsamkeiten auf als es einem – meinem
– unbedingtem Wollen auf der Suche nach Originalität entgegenkommt,
wäre vermessen. Und doch belegen die Biografien dieser so
unterschiedlichen Menschen Taten und →
Ereignisse,
die auf einige charakterliche Kongruenz hinweisen.
Lassen sich solche, eher lebenshungrige Autoren autobiografisch
aus, kommt das unserer – genau, das ist die Stelle an der Sie
als Leser, schwupps, vereinnahmt werden –, kommt es also unserer
Neugierde sehr entgegen. Besonders, wenn es sich dabei um Ausnahmepersönlichkeiten
wie den nigerianischen Nobelpreisträger Wole Soyinka
handelt. Seine Kindheitserinnerungen Aké. Jahre
der Kindheit zählen mit zum Feinsten, was diese Gattung
je hervorgebracht hat. Aber auch seine Jugenderinnerungen Ibadan,
Streunerjahre. 1946-1965 warten auf nahezu jeder Seite mit
Überraschungen auf. Und die Autobiografie seiner reiferen
Jahre Brich auf in früher Dämmerung, die im
Original 2006 erschienen ist, hat nichts von der Frische der früheren
Lebensbeschreibungen eingebüßt. Müßig
zu hinterfragen, ob dies der Schreibkunst des Nobelgeadelten
oder seinen anhaltend spannenden Lebensumständen zu
verdanken ist. In jeder Zeile ist zu spüren: Der Mensch hat
– im Gegensatz zu vielen dieser schillernden Individuen aus
dem Bereich von Politik und Showbiz, deren Memoiren ihre geisterhafte
Herkunft kaum zu verbergen suchen –, dieser Mensch also hat, was
er selbst aufzeichnet, wirklich gelebt.
Die wenigsten literarisch Gebildeten würden es offen eingestehen,
aber selbstredend sind sie nicht weniger als der Durchschnittsmensch
an den kleinen, ganz privaten Geheimnissen ihrer Heroen interessiert.
Wie mögen die sich wohl im Bett machen, mit wem haben sie’s
getrieben?, wird immer weniger verschämt nachgefragt.
Von Lord Byron heißt es, er habe es nicht nur mit Frauen
gemacht und obendrein war unter diesen gar seine Schwester.
Ja, richtig, es war ja bloß seine Halbschwester:
Der
Bruder mit dem Hinkebein |
nimmt sich viel Zeit für's Schwesterlein. |
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Doch
welcher Mann kann von sich schon behaupten, mit derselben Journalistin
im Bett gewesen zu sein wie Fidel Castro. An dieser Stelle der
Prahlerei, der nur scheinbaren Gratwanderung zwischen Eingeständnis
und Wahrhaftigkeit, ist mir Wole Soyinka besonders nah. Da
ist der alternde Mann, Jahrgang 1934, wieder halbstark und gibt
mit seinen Eroberungen an!
Der Wole mit dem krausen Haar |
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liebt die Karibik, wirklich wahr. |
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Auch
in puncto soziales Engagement lässt sich Lord Byrons Biografie
sehen, geradezu vorbildhaft. Hat sich der britische Adlige nicht
im Oberhaus für die streikenden Maschinenstürmer
eingesetzt, die Ludditen?
Wole seinerseits war schon als Kind Teil sozialer Auseinandersetzungen.
Er wurde von den streikenden Marktfrauen in Abeokuta – ein
Meilenstein sozial-politischer Landesgeschichte –, zu denen
seine Mutter gehörte, als Bote eingesetzt. Eine zum Symbol
geronnene Tat, eine Markierung, der er lebenslang weitere
hinzufügt. Sein Kampf gegen autokratische Strukturen in seiner
Heimat dürfte dem interessierten Leser hinlänglich bekannt
sein und hat ihn nicht selten äußerster Gefahr ausgesetzt.
Das Aufbegehren des anderen subsaharischen Vertreters,
Dambudzo Marechera, gegen die rassistische Kolonialregierung
in seinem Land war mit Sicherheit randvoll von jugendlichem
Übermut und (spät-)pubertärem Nonkonformismus.
Es mündete wenig überraschend in einer fatalen Folgerichtigkeit,
der Suspendierung vom akademischen Betrieb. Ein Umstand,
der den jungen Gegner des Ian Smith-Regimes ins Exil nach England
zwang, wo er ebenfalls aus akademischen Tempeln expediert wurde.
Ein Querkopf sondergleichen, wie sein älterer, nigerianischer
Kollege, wie jener Lord, in dessen Heimat sich Dambudzo fortan
in der alternativen Szene und auf den Straßen der Hauptstadt
herumtrieb. Das war Ende der 1970er bis Anfang der 80er Jahre
der Fall, gut zwanzig Jahre früher machte Wole Soyinka in
London bedeutende Erfahrungen, erste mit der Theaterarbeit,
nachhaltige mit einer Frau: Er heiratete eine Engländerin
und ließ sich bald wieder scheiden, bevor er mit dem Sohn
aus dieser Beziehung wieder in Richtung afrikanische Heimat aufbrach.
Lord Byron, der sich in den griechischen Unabhängigkeits-
und Freiheitskampf einmischen wollte, begab sich zu
diesem Zweck ins Land des klassischen Altertums und fiel
dort nach ca. einjährigem Aufenthalt dem Sumpffieber
zum Opfer. Andere Quellen sprechen von einer Lungenentzündung,
der ebenso unheroisch, als Nachfolgeerkrankung von Aids,
auch jener junge Simbabwer erlag.
Im Übrigen ist es keinesfalls so, dass Soyinkas Werk neben
seinen Autobiografien keinen hohen Stellenwert hätte, immerhin
hat er den Nobelpreis erhalten. Doch die Tatsache, dass er – neben
nur zwei Romanen – in der Hauptsache Essays und vor allem Theaterstücke
verfasst hat, die naturgemäß eher einem kleinen
Theaterpublikum bekannt sein dürften als dem herkömmlichen
Leser, stützt die These von der für das Auge des Betrachters
größeren Spannung im Leben als im Werk des Nigerianers.
Auch das vergleichsweise schmale Werk des Quertreibers Marechera
hinterließ deutliche Spuren. Seinen querigen Bildern, seinen
sperrigen Assoziationen, seiner bis an die Schmerzgrenze
prallenden Konsequenz, kurz: seiner innovativen Schreibe verdankt
seine Lyrik wie seine Prosa große, anerkennende, über
die Landesgrenzen reichende Aufmerksamkeit. Doch welch' ein Gegensatz
tut sich auf, betrachtet man die Kindheit des Nobelpreisträgers
und des Außenseiters Marechera. Letzterer stammte aus
den untersten Schichten, sein Vater war Leichenhausarbeiter, und
Dambudzo wünschte sich nichts so sehr, als dem elterlichen
Heim, dem Haus des Hungers, so auch der Titel seiner
ersten Prosaveröffentlichung zu entfliehen,
während Wole wohlbehütet, sein Vater war Schulrektor,
seine Anlagen bilden konnte.
Von Byron, der erst im Alter von zehn Jahren den Adelstitel
erbte, weiß man, dass er trotz Titel mit einer finanziell
prekären Situation zu kämpfen hatte, überdies mit
dem Spott seiner Mitschüler, da er mit einem Klumpfuß
zur Welt gekommen war. Kein leichtes Los für ein selbstverliebtes,
egozentrisches Wesen. Es flüchtete sich in Phantasien,
in denen das Schwimmen und besonders das Reiten eine große
Rolle spielten; beides Fähigkeiten, die schon der Junge mit
großer Akribie pflegte, da er bei deren Beherrschung nicht
von seiner Körperbehinderung eingeschränkt wurde.
In einer seiner, mit Rachegelüsten angereicherten
Phantasien sah er sich als Anführer einer Bande von
schwarzen Reitern auf schwarzen Pferden. Vielleicht gar nicht
so weit entfernt von der Realität des letzten Lebensjahres
des Lords in Griechenland, als er das Kommando über
eine Art Internationale Brigade innehatte.
So unterschiedlich die drei hier in den Blickpunkt gerückten
Schriftsteller auch sein mögen, so hoffe ich, dass jene Kongruenz
der Charaktere, von der weiter oben die Rede ist und die vom offensichtlichen
Schreibtalent mit bestimmt sein mag, mindestens in Schlaglichtern
erkennbar aufleuchtete. Überschneidungen finden sich
in der extremen Eigensinnigkeit bei jedem der Drei oder positiv
ausgedrückt: in einer konsequenten Orientierung an nicht
übernommenen, sondern ureigenen Vorstellungen, ein gewisses,
zum Teil auch höheres Maß an Selbstverliebtheit
und ein gut Stück Abenteuerlust, das meinem Gefühl
nach auch ernsthaft verfolgter politischer Arbeit nicht abträglich
sein muss. Über allem schwebt ein hohes Maß an Phantasie,
Ursprung immer wieder überraschender Bilder in Texten,
die der Absicht zu folgen scheinen, möglichst Inkohärentes
zu verknüpfen. Hier der Versuch eines ebensolchen:
In meiner Phantasie erleben wir eine Verdichtung der Zeit:
Lord Byron, Dambudzo Marechera und Wole Soyinka treffen im London
des, sagen wir, auslaufenden 19. Jahrhunderts aufeinander. Dambudzo
betritt einen Buchladen im vornehmen Stadtteil Bloomsbury. Der
Ladenbesitzer begrüßt und beäugt dann misstrauisch
den liederlich gekleideten Studenten. Von dem ist kein Umsatz
zu erwarten, er würde stundenlang in den Büchern
stöbern ohne je vorzuhaben, eines zu erwerben. Wovon
auch? Dambudzos Blick streift über die Bestseller von Charles
Dickens, innerlich darüber den Kopf schüttelnd, dass
dieser vor fast zwei Jahrzehnten verstorbene Vielschreiber
ohne jegliche Genialität und voll von triefender Moralität
immer noch im Sortiment Platz findet. Er sucht nach neuen innovativen
Schreibern. Sein Blick schweift von den Büchern ab und bleibt
an einem älteren Kraushaar hängen, das an einem
Tisch mit Sachbüchern steht, bürgerlich adrett das Äußere,
den dritten Band von Marx’ Kapital in Händen haltend und
aufmerksam darin blätternd. Ein junger, bemüht elegant
gekleideter Lord, erkennbar verarmter Landadel, bittet den älteren
Nigger um Verzeihung, wie er sich an ihm vorbeidrängt. Der
Alte blickt nicht auf, brummt nur unverständlich und rückt
näher an den Buchtisch heran. Der Adlige kommt auf Dambudzo
zu. Ihre Blicke treffen sich kurz, in beiden wird jeglich anderer
Eindruck von Überraschung überdeckt: der Lord darüber,
an diesem Ort gleich auf zwei Schwarze zu treffen, der Student
über die – trotz des offensichtlichen Gehfehlers
– würdevolle Geschmeidigkeit seines Gegenübers,
das ihm irgendwie vertraut vorkommt.
Die
Drei sind die einzigen Besucher, der kleine Laden würde mehr auch
kaum aufnehmen können. Plötzlich drehen sich ihre Köpfe. Vor dem
Ladenfenster ist ein junger schäbig gekleideter Bursche mit schräg
sitzender Kappe aufgetaucht. Er winkt mit der Zeitung in einem
Arm, während er unter dem anderen Arm einen dicken Stapel hält
und schreit: "Jack the Ripper schlägt erneut zu. Fünftes
Opfer des Schlitzers. Extrablatt: Jack the Ripper schlägt erneut
zu!"
Janko Kozmus
© 2012