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Literarisches Portrait: Boualem Sansal – Teil I
Kritischer Blick auf das literarische Schaffen von Boualem Sansal Mit Blick auf das Gesamtwerk des Schriftstellers Boualem Sansal lässt sich eine überaus kritische Zustandsbeschreibung seiner algerischen Heimat darin konstatieren. Doch wird vor allem in seinem essayistischen Werk – insbesondere in Postlagernd: Algier[I], in der Form eines Offenenen Briefes an seine Landsleute gestaltet – deutlich, dass für den 1949 geborenen Autor nur eine schonungslose Bestandaufnahme bestehender Verhältnisse als Basis für eine Diskussion um eine wahrhafte Demokratie, die anzustreben es gilt, dienen kann. Geprägt sind besagte Verhältnisse – wie Sansal sie beschreibt – von den arroganten Spielen der Mächtigen, von Korruption in Politik und Wirtschaft sowie dem Islamismus; Zustände, die sich im Lande durch ihr Ineinanderwirken zuspitzen und gleichzeitig über Algerien hinaus weisen. Was den Islamismus angeht, so hat dieser sich längst zu einem internationalen Problem ausgeweitet. Und die Korruption im eigenen Lande sowie die damit einhergehende Perspektivlosigkeit weiter Teile der Bevölkerung bewegt viele Algerier dazu, ihre Heimat zu verlassen und ihr Heil in Europa zu suchen. Letztere Tendenz hat Boualem Sansal bereits in seinem 2005 veröffentlichten Roman Harraga[II] thematisiert. In Algerien werden jene, die sich aufmachen ins Gelobte Land Europa, um dort ihr Glück zu versuchen, Harragas, Straßenverbrenner, genannt; sie verbrennen die Straße hinter sich. Harraga ist der vierte Roman des in Französisch schreibenden Autors. Erst im Alter von fünfzig Jahren wurde Sansals erstes Werk veröffentlicht. Der Roman Der Schwur der Barbaren[III] heimste hohes Lob und bedeutende Literaturpreise ein. Seit damals verfeinert Boualem Sansal von Werk zu Werk seinen Stil, behält den kraftvoll-kritischen Ton jedoch bei, was die Tatsache, dass er sein Land nicht verlässt, wie viele seiner Kollegen, wie beispielsweise sein berühmter Landsmann und Kollege Yasmina Khadra oder sein Freund Rachid Mimouni, zum mutigen Akt erhebt. Mimouni lebte wie Sansal in Boumerdès, ca. 50 km östlich der Hauptstadt gelegen, bevor er in der Zeit des Terrors nach Frankreich emigrierte. Der inzwischen verstorbene Autor hat den damaligen hohen Beamten im Industrieministerium und promovierten Wirtschaftswissenschaftler zum Schreiben gebracht, und dieser entwickelt sich, als wolle er seinen späten Start als Schriftsteller kompensieren, zum äußerst produktiven Autor. In Der Schwur der Barbaren geht es vordergründig um eine Morduntersuchung. Innerhalb eines Tages werden in dem Städtchen Rouiba zwei Männer ermordet, der einflussreiche Moh und der mittellose, kürzlich aus Frankreich zurückgekehrte Landarbeiter Abdallah Bakour. Kommissar Si Larbi entdeckt einen Zusammenhang zwischen den beiden Taten. Die Untersuchung gerät schnell zu einer Kritik der Verhältnisse im Lande nach Verlassen der französischen Kolonialmacht, geprägt von ausufernder Korruption in der Politik und dem gefürchteten Terror von Islamisten. Während Sansal im zweiten Roman Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum [IV] im Zwiegespräch zweier zum Tode Verurteilter, des Franzosen Pierre und des Algeriers Farid, die westliche und die islamische Kultur aufeinanderprallen lässt, setzt er im dritten Roman Erzähl mir vom Paradies[V] seine Kritik an den herrschenden Verhältnissen fort, insbesondere an der Korruption in seiner Heimat. Dem titelgebenden Imperativ Erzähl mir vom Paradies zu entsprechen, erscheint aussichtlos, sollte dieses Paradies auf Erden, in Algerien, verortet sein. So üben sich die verschiedenen Teile einer fröhlichen Truppe bei ihrem Treff in der Bar des amis eher in Ironie und Sarkasmus. Vom ehemaligen Freiheitskämpfer zum Schriftsteller, vom enttäuschten Intellektuellen bis zu einem Arzt, einem gewissen Doc Tarik, übertreffen sie einander in der Ausschmückung ihrer Erzählungen vom Alltag oder von außergewöhnlichen Begebenheiten. Scheint tatsächlich in einer Geschichte einmal so etwas wie ein wahrer Kern auf, so klingt diese erst recht unglaubhaft. Algerien präsentiert sich hier als eine Farce, als eine Art Klein-Abistan, eine Vorwegnahme des gleichnamigen Reichs in 2084 Das Ende der Welt. Im beschriebenen Zeitraum hat Sansals Heimat längst mit den Bärtigen, den Islamisten zu kämpfen, ist aber weit von der Errichtung eines Gottesstaates entfernt. Sein fünfter Roman Das Dorf des Deutschen[VI] ist in zweierlei Hinsicht interessant, einmal aus deutscher Sicht und zum anderen hinsichtlich der Erweiterung der Kritik am Islamismus: Die beiden Brüder Rachel (für Rachid-Helmut) und Malrich (für Malek-Ulrich) Schiller leben in einem Pariser Vorort, während ihre Mutter, eine Algerierin und ihr Vater, ein Deutscher, in der algerischen Heimat, in einem Dorf verblieben sind. Bei einem Attentat von Islamisten werden die Beiden getötet. Durch dieses Ereignis gerät die Familiengeschichte in Bewegung. Die Brüder erfahren, dass ihr Vater Hans Schiller – Held der Nationalen Befreiungsfront Algeriens – ein ranghoher SS-Offizier war. In einem Interview des Journalisten Grégoire Leménager[VII] anlässlich der Buchveröffentlichung nimmt dieser Bezug auf die Aussage einer der Hauptfiguren des Romans, die den Imam im Pariser Vorort wie einen SS-Angehörigen wahrnehme, und wendet an den Autor die Frage, inwieweit er diesen Standpunkt teile. Sansal antwortet: "Wir leben unter einem national-islamistischen Regime und einer von Terrorismus geprägten Umgebung, und wir sehen sehr wohl, dass die Grenze zwischen Islamismus und Nazismus dünn ist ..." Zunächst erscheint Rue Darwin [VIII], Sansals sechster Roman, als ein sehr intimes Werk, das eine beständige Erforschung des Innenlebens des Ich-Erzählers Yazid vor dem Leser ausbreitet. Auf den zweiten Blick jedoch wird jene andere Dimension deutlich, die der Kritik an den sozialen, politischen und vor allem wirtschaftlichen Zuständen in seiner Heimat; insbesondere in der Zeit nach der gewonnenen Unabhängigkeit und des Bürgerkriegs, der im Jahre 1988 seinen Anfang nahm. Einen signifikanten Stellenwert nimmt die mit diesem Roman verschärfte Kritik am Islamismus ein, keine abstrakte Schimpfkanonade, sondern überzeugende Distanzierung, da persönlicher Betroffenheiit des Ich-Erzählers entsprungen. Nach dem Tod seiner Mutter kehrt der Erzähler Yazid in die Rue Darwin im Viertel Belcourt von Algier zurück, wo er seine Jugend bei Pflegeeltern verbrachte. Die Vergangenheit wird lebendig. Yazid war – wie die anderen Kinder des Viertels auch – als Nachrichtenbote am Unabhängigkeitskampf, an der Schalcht um Algier, beteiligt. Auch dies ein Thema, das der Autor immer wieder behandelt. Jedoch geht es dabei weniger um eine Heroisierung des Kampfes gegen die französische Kolonialmacht, der Fokus liegt vielmehr auf der Machtübernahme durch die Einheitspartei und die durch ihre Mitglieder darauf folgende Infiltration der Wirtschaft und der Administration bis hin zu Regional- und Kommunalverwaltungen. Mit 2084 Das Ende der Welt [IX], seinem jüngsten Roman, setzt Boualem Sansal seine Auseinandersetzung mit dem Isamlismus fort. Wie der Titel nahelegt, bezieht sich der Roman auf die Orwell-Fiktion 1984 und beinhaltet ebenfalls eine Dystopie, die allerdings im Gegensatz zur Vorlage nicht einen säkularen, sondern einen Gottesstaat in seiner negativsten Form darstellt, als Gebilde der totalen Überwachung. Auch dieser Roman – mit stark satirischem Tonfall – wurde von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen; die französische Originalvorlage – 2084 La fin du monde – wurde bereits im Erscheinungsjahr 2015 mit dem Grand prix du roman de l'Académie française ausgezeichnet. Soweit der Romancier Boualem Sansal. Darüber hinaus verdient auch sein essayistisches Werk Beachtung. Neben dem eingangs angeführten Postlagernd: Algier gehört insbesondere der schmale Band Maghreb – eine kleine Weltgeschichte[X] dazu; im Sinne einer strengen Gattungszuordnung entspricht sein Inhalt allerdings einer Mischform aus Essay und Fiktion, da die Ausführungen – kunstvoll bis spannend, fantasievoll bis gelehrt, wie es seitens der positiven Kritik heißt – von einem fiktiven Ich-Erzähler dargeboten werden.
Erst gegen Ende der Kleinen Weltgeschichte kommt der 2011 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Schriftsteller Boualem Sansal zum entscheidenden Markstein, so nennt er seine Kapitel, zum Markstein Algerien und damit zu seiner – im engsten Sinne verstandenen – Heimat. Der Ich-Erzähler, der Autor nennt ihn in der Einleitung seine Phantomfigur, reinkarniert zum wiederholten Mal. Er wird in eine Zeit hineingeworfen, in der die von den Franzosen ausgeübte Fremdherrschaft über die ansässige Bevölkerung, die längst nicht mehr nur aus den ursprünglich hier beheimateten Berbern besteht, bereits hundert Jahre währt. Und der Wiedergeborene wundert sich gleich über den schwarz glänzenden Belag, der die Straßen überzieht. Später wird er von der Gewalt der kolonialen Auseinandersetzungen berichten. Eine Darstellung oder gar Analyse aktueller Geschehnisse in Algerien oder im Maghreb bietet dieser Band jedoch nicht. 2016 © Janko Kozmus
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