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Literarisches Portrait: Guido MorselliKritischer Blick auf das literarische Schaffen von Guido Morselli Es mag Gründe geben, die Biografie eines Literaten aus seinem Werk auszublenden; bei Guido Morselli scheint dies unmöglich! Der krasse Schlusspunkt, den er gesetzt hat, indem er sich das Leben nahm, stiftet geradezu an, diesen Umstand in Relation zu seinem Werk zu betrachten. Guido Morselli wird am 15. August 1912 als Sohn wohlhabender Eltern in Bologna geboren; zwei Jahre später siedelt die Familie nach Mailand über. Abitur; Jurastudium nach dem Wunsch der Familie, alles verläuft zunächst in der maßvollen Bahn, die dem Spross einer wohlhabenden Familie in Norditalien vorgegeben ist. Der Krieg scheint den jungen Mann nicht mehr aus dieser Bahn geworfen zu haben, als dies von einem sensiblen Menschen zu erwarten wäre. Niederschlag finden seine Erfahrungen aus dem militärischen Dienst allenfalls in dem Roman Licht am Ende des Tunnels, der allerdings in „retrospektiver Hypothese“ den Ersten Weltkrieg zum Handlungshintergrund nimmt. Zu Anfang steht ein fiktiver Geniestreich, der den Grabenkrieg Österreichs gegen das wankelmütige Italien im Jahre 1916 mit einem Schlag zu beenden imstande ist. Reale Personen werden in einen hypothetischen Geschichtsverlauf eingewoben. Geschichte als Abfolge zufälliger Ereignisse und vielfältiger Möglichkeiten. Nach dem Krieg zieht Guido Morselli in die Nähe von Gavirate, wo er sich ein Haus baut, das er bis 1973 nur einmal für eine Reise verlässt. Ein einziges Ereignis - Moto-Cross-Fahrer stören die Ruhe in der Abgeschiedenheit – genügt ihm, sich vertreiben zu lassen. Er zieht in eine weniger komfortable Wohnung des Familienbesitzes in Varese um. In dieser Zeit schreibt er an seinem letzten von insgesamt neun – allesamt zu Lebzeiten unveröffentlichten – Romanen; er trägt den vielsagenden Titel Dissipatio humani generis, Die Auflösung der Gattung Mensch. Der menschenscheue Protagonist („phobanthrop“) bricht in eine Bergwelt auf, um sich umzubringen. Doch kommt es nicht dazu und als er in die bewohnte Gegend zurückkehrt, muss er feststellen, dass er – aus nicht erklärten Gründen – der letzte verbliebene Mensch ist. Wenige Monate nach Fertigstellung dieser Fiktion bringt sich der Autor Morselli selbst um, vor sich hat er zwei ablehnende Verlagsbescheide, dieses Skript betreffend, liegen. Demnach war der Suizid eine Verzweiflungstat, suggerieren diese oder war er eine folgerichtige Konsequenz seines Denkens, das dem Nihilismus nahe kommt? Vieles deutet daraufhin, dass er mit seinem Freitod der Welt ein Subjekt entziehen wolle, das die Ordnung der Dinge beeinträchtigt. Der Mensch als Störfaktor, als Missbildung der Natur. "Die letzte Vision des Autors", schreibt Jürgen Ritte[0], "war also die eines vorgeschichtlichen, unbevölkerten Paradieses, in dem noch niemand vom Baume der Erkenntnis gegessen hat." 2012 © by Janko Kozmus |
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1912 1914 1930 1935 1935 1940-45 1940/43 1943 1943-45[1]
1945 1947 1947-48 1948
1954 1955-56
1961-62 1964-65 1965 1966 1967 1969-70 1970-71 1972-73 1973 1988 2002 |
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"Of course, there is a long-standing tradition of exchange between genre and "serious" fiction, in spite of the lack of a national tradition for the former, going back at least as far as Leonardo Sciascia's Il giorno della civetta. Likewise, certain of Guido Morselli's novels can be read as instances of very specific sub-genres of science-fiction, from alternative history à la Philip K. Dick's The Man in the High Castle - I am thinking of course of Contro-passato prossimo - to the post-apocalypse dystopia of Dissipatio H. G." - Luca Somigli, Toronto University. "...I can think of two writers who have killed themselves for lack of recognition: Richard Burns in England, Guido Morselli in Italy. If you have the stomach for it, a gesture of that kind will certainly compel some to take you seriously." - Tim Parks, The Richmond Review "Weder die Worte, die Haltung noch die psychologischen Verwicklungen sind wahr. Und es ist eine Welt, die zu viele Leute kennen, um sie einfach erfinden zu können" Italo Calvino über Il comunista, seinerzeit Lektor beim ital. Verlag Einaudi ! |
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0) Vgl. Jürgen Ritte: KLfG a.a.O. 1) Entstehungszeit ungenau datiert: "aus der kalabresischen Zeit" (KLfG). Später wird Guido Morselli diesen Roman in seinen Tagebüchern als missglückt bezeichnen. 2) Erster Hinweis auf das Suizidthema in Leben und Werk des Autors.- Zitiert nach Hösle, Johannes a.a.O. S. 211 3) Einziger belegter Ausbruch bis zu seinem Todesjahr aus seiner selbst gewählten Klausur in seinem 1952 erbauten Haus bei Varese (Gavirate). 4) Der einzige Roman von Gudio Morselli, der beinahe zu seinen Lebzeiten erschienen wäre. Kurz vor der Fertigstellung wurde er vom Verlag aus dem Programm genommen. 5) Calvino verpackt seinen "Verriss" von Il comunista in eine moderate Form. Geradezu behutsam versucht er Morselli Mängel des Romans nahezubringen. Er spricht dabei von Kollege zu Kollege, vermeidet den Sprachgestus einer offiziellen Stellungnahme. Das Äußerste an Einmischung ist der Rat an Morselli, das Buch in der Form einer Biographie zu verfassen, denn "über Probleme, die einem am Herzen liegen, kann man große Sagen schreiben, die literarisch von großem Wert wären, und nicht nur mit Ideen und Notizen, sondern mit Figuren, Landschaften und Gefühlen. Von seriösen Sachen muss man lernen nur auf diese Weise zu schreiben." (Übersetzung aus dem Italienischen von Monika Müller, der ich an dieser Stelle herzlich danken möchte!) 6) Der Autor schien von der Vorstellung von Reisen in der Zeit fasziniert gewesen zu sein, wobei er dabei weniger eine Kategorie der Science Fiction im Blick hatte, als ein Spiel der Möglichkeiten der Realität im Hegelschen Sinne. - Zitiert nach Hösle, Johannes a.a.O. S. 212
Quellen |
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Guido Morsellis italienischer Verlag Adelphi ! (Keiner der deutschen Verlage, die Morselli in ihr Programm übernommen hatten, präsentiert den Autor derzeit online!) Vincenzo Guerrazzis Erzählung, IN THE PO RIVER DELTA WITH PAVESE, MORSELLI AND HEMINGWAY - Sehr aufschlussreicher Bericht über ein fiktives Aufeinandertreffen der genannten Schriftsteller (im ital. Original und engl. Übersetzung von Elaine Bennett; direkter Link nicht möglich, man folge dem Werkverzeichnis von Guerrazzi!) HISTORY AND THE INQUISITOR: NOTES ON THE SCIENCE FICTION OF VALERIO EVANGELISTI - Anlässlich der Besprechung des genannten Buchs kommt Luca Somigli von der Toronto University auf den Stellenwert Guido Morsellis innerhalb der SF zu sprechen (in engl. Sprache). VALENTINA FORTICHIARI: Guido Morselli in cerca di editore und Briefwechsel Morsellis (in ital. Sprache) mit Verlagslektoren in den 60er Jahren, insbesondere mit Italo Calvino, der seinerzeit bei Einaudi tätig war. Dreißig Jahre danach - Bericht in ital. Sprache (Trent'anni dopo) der Online-Seite des ital. Senders RAI anlässlich der Herausgabe des 1. Bandes (Romane I) einer Gesamtausgabe der Werke von Morselli durch Adelphi! - Inzwischen (08/2012) herausgenommen! KLfG (Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, edition text+kritik) |
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Karpinsky hilf! (zu: Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit) Abenteuer und Politik (zu: Licht am Ende des Tunnels) Vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (zu: Rom ohne Papst) |
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2002-2012
© by Janko Kozmus |
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