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Foto: Guido Morselli
GUIDO MORSELLI
(1912 - 1973)
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Literarisches Portrait: Guido Morselli

DAS BESONDERE BUCH
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DISSIPATIO HUMANI GENERIS
ODER DIE EINSAMKEIT
ZUR REZENSION

Kritischer Blick auf das literarische Schaffen von Guido Morselli

Es mag Gründe geben, die Biografie eines Literaten aus seinem Werk auszublenden; bei Guido Morselli scheint dies unmöglich! Der krasse Schlusspunkt, den er gesetzt hat, indem er sich das Leben nahm, stiftet geradezu an, diesen Umstand in Relation zu seinem Werk zu betrachten.

Guido Morselli wird am 15. August 1912 als Sohn wohlhabender Eltern in Bologna geboren; zwei Jahre später siedelt die Familie nach Mailand über. Abitur; Jurastudium nach dem Wunsch der Familie, alles verläuft zunächst in der maßvollen Bahn, die dem Spross einer wohlhabenden Familie in Norditalien vorgegeben ist.

Der Krieg scheint den jungen Mann nicht mehr aus dieser Bahn geworfen zu haben, als dies von einem sensiblen Menschen zu erwarten wäre. Niederschlag finden seine Erfahrungen aus dem militärischen Dienst allenfalls in dem Roman Licht am Ende des Tunnels, der allerdings in „retrospektiver Hypothese“ den Ersten Weltkrieg zum Handlungshintergrund nimmt. Zu Anfang steht ein fiktiver Geniestreich, der den Grabenkrieg Österreichs gegen das wankelmütige Italien im Jahre 1916 mit einem Schlag zu beenden imstande ist. Reale Personen werden in einen hypothetischen Geschichtsverlauf eingewoben. Geschichte als Abfolge zufälliger Ereignisse und vielfältiger Möglichkeiten.

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Kritischer Blick ...
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Nach dem Krieg zieht Guido Morselli in die Nähe von Gavirate, wo er sich ein Haus baut, das er bis 1973 nur einmal für eine Reise verlässt. Ein einziges Ereignis - Moto-Cross-Fahrer stören die Ruhe in der Abgeschiedenheit – genügt ihm, sich vertreiben zu lassen. Er zieht in eine weniger komfortable Wohnung des Familienbesitzes in Varese um. In dieser Zeit schreibt er an seinem letzten von insgesamt neun – allesamt zu Lebzeiten unveröffentlichten – Romanen; er trägt den vielsagenden Titel Dissipatio humani generis, Die Auflösung der Gattung Mensch. Der menschenscheue Protagonist („phobanthrop“) bricht in eine Bergwelt auf, um sich umzubringen. Doch kommt es nicht dazu und als er in die bewohnte Gegend zurückkehrt, muss er feststellen, dass er – aus nicht erklärten Gründen – der letzte verbliebene Mensch ist. Wenige Monate nach Fertigstellung dieser Fiktion bringt sich der Autor Morselli selbst um, vor sich hat er zwei ablehnende Verlagsbescheide, dieses Skript betreffend, liegen. Demnach war der Suizid eine Verzweiflungstat, suggerieren diese oder war er eine folgerichtige Konsequenz seines Denkens, das dem Nihilismus nahe kommt? Vieles deutet daraufhin, dass er mit seinem Freitod der Welt ein Subjekt entziehen wolle, das die Ordnung der Dinge beeinträchtigt. Der Mensch als Störfaktor, als Missbildung der Natur. "Die letzte Vision des Autors", schreibt Jürgen Ritte[0], "war also die eines vorgeschichtlichen, unbevölkerten Paradieses, in dem noch niemand vom Baume der Erkenntnis gegessen hat."

2012  © by Janko Kozmus

 DATEN UND FAKTEN

1912
Am 15. August als Sohn wohlhabender Eltern, Giovanni Morselli und Olga Vincenzi, in Bologna geboren; er war das zweite von insgesamt vier Kindern.

1914
Umzug der Familie nach Mailand.

1930
Auf Wunsch der Familie Beginn eines Jurastudiums.

1935
Promotion.

1935
Promotion.

1940-45
Militärdienst als Offizier, zuletzt in Kalabrien

1940/43
Bibliografische Angabe Filosofia sotto la tenda (Philosophie unterm Zeltdach), unveröffentlichter Essay.

1943
Erste Veröffentlichung:
Bibliografische Angabe Proust o del sentimento, Essay.

1943-45[1]
Bibliografische Angabe
Uomini e amori (Männer und Liebschaften), Roman. Posthum veröffentlicht: Mailand 1998.

1945
Rückkehr nach Varese, wo er sich in der Nähe ein Haus baut, das er Jahrzehnte lang kaum verlassen wird.

1947
Bibliografische Angabe Realismo e fantasia, Neun Dialoge.

1947-48
Bibliografische Angabe Incontro col comunista (Begegnung mit dem Kommunisten), Roman. Posthum veröffentlicht: Mailand 1976. - Die Liebe des Arbeiters und KPI-Mitglieds zur wohlhabenden Witwe scheitert am Klassenwiderspruch. Gildo, der Metallarbeiter, zieht sich auf seine ideologische Position zurück.

1948
Tagebucheintrag v. 26. November: Niemand hat sich jemals freiwillig das Leben genommen. Der Selbstmord ist ein Todesurteil, mit dessen Vollstreckung der Richter den Verurteilten beauftragt.
[2] 

1954
Aufenthalt in Bonn als Korrespondent für Il Mondo
[3] 

1955-56
Bibliografische Angabe Fede e critica (Glaube und Kritik), Essay, veröffentlicht posthum 1977.

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DIE LIEBE EINER TOCHTER
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1961-62
Bibliografische Angabe Un dramma borghese (dt: Liebe einer Tochter, Übersetzung: Arianna Giachi. Ffm 1984), Roman. Posthum veröffentlicht: Mailand 1978. - Beschreibung des Versuchs eines Vaters und einer Tochter dem beiderseitigen inzestuösen Begehren zu entgehen.

1964-65
Bibliografische Angabe
Il comunista
[4] , Roman, veröffentlicht posthum 1976. - Ein kommunistischer Abgeordneter im Spannungsfeld des Kräfteverhältnisses italienischer Parteien der 60er Jahre.

1965
Briefwechsel mit Italo Calvino, seinerzeit beim ital. Verlag Einaudi beschäftigt.
[5] 

1966
Bibliografische Angabe Roma senza Papa, Roman, veröffentlicht posthum 1974 (dt: Rom ohne Papst, Übersetzung: Arianna Giachi. Ffm 1974). - Bericht vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts lautet der Untertitel des wohl bekanntesten Romans von Morselli. Formal ein Zukunftsroman, beschreibt er den Zustand der katholischen Kirche in satirischer Form in der Perspektive eines jungen, zudem verheirateten (sic!) Schweizer Priesters.

1967
Tagebucheintrag v. 9. Mai: ... ohne mich im Raum jemals vom Punkt wegzubewegen, an dem ich mich befinde: ich werde sehen, ob mir dieses Haus, das in hundert Jahren ein Trümmerhaufen geworden ist, gefällt, ich werde wiedersehen, was diese Wiese war, bevor es gebaut wurde. Ich bewege mich in der Zeit mit eigenen Mitteln oder mit künstlichen Fahrzeugen...
[6] 

1969-70
Bibliografische Angabe Contro-passato prossimo (dt: Licht am Ende des Tunnels, Übersetzung: Arianna Giachi. Ffm 1977), Roman. Posthum veröffentlicht: 1975. - Die wörtliche Übersetzung des Titels aus dem Italienischen lautet Jüngste Gegen-Vergangenheit und benennt eine Art rückwärts gewandte Utopie: Deutschland und Österreich gewinnen den Ersten Weltkrieg, unter der Führung von Walter Rathenau und Aristide Briand entsteht ein geeintes Europa, ca. ein halbes Jahrhunderts bevor dieses Ereignis in der realen Geschichte stattfindet. Begriffe wie real und Historie werden von Morselli hinterfragt und neu definiert.

1970-71
Bibliografische Angabe Divertimento 1889 (dt: Ein Ausflug seiner Majestät, Übersetzung: Ragni Maria. Düsseldorf 1980. Taschenbuchausgabe: Ffm 1985), Roman. Posthum veröffentlicht: Mailand 1975. - Operettenhaftes Spiel mit den Möglichkeiten der Geschichte: Für den Zeitraum eines Urlaubs in der Schweiz entgeht der italienische König Umberto I. der Bürde seines Amtes, was nicht ohne Verstrickungen vonstatten geht.

1972-73
Bibliografische Angabe Dissipatio H.G. (dt: Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit, Übersetzung: Ragni Maria. Ffm 1990), Roman. Posthum veröffentlicht: Mailand 1977. - Im Todesjahr des Autors vollendeter Roman. Nicht nur deshalb das authentischte seiner Bücher: Nach einem misslungenen Selbstmordversuch findet sich der Protagonist in einer von allem menschlichen Dasein entblößten Welt wieder. Eine bis an die Schmerzgrenze reichende, anspruchsvolle Reflexion über die Einsamkeit des Menschen.

1973
Freitod; Guido Morselli hat sich am 31. Juli erschossen, vor sich liegend eine Mappe abschlägiger Verlagsbescheide.

1988
Bibliografische Angabe Diario, Vorwort: Giuseppe Pontiggia, Tagebuch mit Gedanken zu Philosophie und Literatur. Posthum veröffentlicht: Mailand 1988.

2002
Bibliografische Angabe
Romanzi, vol I, Werkausgabe 1. Teil bei Adelphi (Inhalt: Uomini e amori, Incontro col comunista, Un dramma borghese, Il Comunista, Brave Borghesi).

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STIMMEN:
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"Of course, there is a long-standing tradition of exchange between genre and "serious" fiction, in spite of the lack of a national tradition for the former, going back at least as far as Leonardo Sciascia's Il giorno della civetta. Likewise, certain of Guido Morselli's novels can be read as instances of very specific sub-genres of science-fiction, from alternative history à la Philip K. Dick's The Man in the High Castle - I am thinking of course of Contro-passato prossimo - to the post-apocalypse dystopia of Dissipatio H. G." - Luca Somigli, Toronto University. 

"...I can think of two writers who have killed themselves for lack of recognition: Richard Burns in England, Guido Morselli in Italy. If you have the stomach for it, a gesture of that kind will certainly compel some to take you seriously." - Tim Parks, The Richmond Review

"Weder die Worte, die Haltung noch die psychologischen Verwicklungen sind wahr. Und es ist eine Welt, die zu viele Leute kennen, um sie einfach erfinden zu können" Italo Calvino über Il comunista, seinerzeit Lektor beim ital. Verlag Einaudi !

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ANMERKUNGEN:
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0) Vgl. Jürgen Ritte: KLfG a.a.O.

1) Entstehungszeit ungenau datiert: "aus der kalabresischen Zeit" (KLfG). Später wird Guido Morselli diesen Roman in seinen Tagebüchern als missglückt bezeichnen.

2) Erster Hinweis auf das Suizidthema in Leben und Werk des Autors.- Zitiert nach Hösle, Johannes a.a.O. S. 211

3) Einziger belegter Ausbruch bis zu seinem Todesjahr aus seiner selbst gewählten Klausur in seinem 1952 erbauten Haus bei Varese (Gavirate).

4) Der einzige Roman von Gudio Morselli, der beinahe zu seinen Lebzeiten erschienen wäre. Kurz vor der Fertigstellung wurde er vom Verlag aus dem Programm genommen.

5) Calvino verpackt seinen "Verriss" von Il comunista in eine moderate Form. Geradezu behutsam versucht er Morselli Mängel des Romans nahezubringen. Er spricht dabei von Kollege zu Kollege, vermeidet den Sprachgestus einer offiziellen Stellungnahme. Das Äußerste an Einmischung ist der Rat an Morselli, das Buch in der Form einer Biographie zu verfassen, denn "über Probleme, die einem am Herzen liegen, kann man große Sagen schreiben, die literarisch von großem Wert wären, und nicht nur mit Ideen und Notizen, sondern mit Figuren, Landschaften und Gefühlen. Von seriösen Sachen muss man lernen nur auf diese Weise zu schreiben." (Übersetzung aus dem Italienischen von Monika Müller, der ich an dieser Stelle herzlich danken möchte!)

6) Der Autor schien von der Vorstellung von Reisen in der Zeit fasziniert gewesen zu sein, wobei er dabei weniger eine Kategorie der Science Fiction im Blick hatte, als ein Spiel der Möglichkeiten der Realität im Hegelschen Sinne. - Zitiert nach Hösle, Johannes a.a.O. S. 212

Quellen
Ritte, Jürgen: Guido Morselli, in: KLfG (Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, edition text+kritik)
Hösle, Johannes Die italienische Literatur der Gegenwart / von Cesare Pavese bis Dario Fo. München 1999. S. 211 ff.
VALENTINA FORTICHIARI: Guido Morselli in cerca di editore, a.a.O
Briefwechsel von Morselli mit Verlagslektoren in den 60er Jahren, insbesonere mit Italo Calvino, a.a.O
www.guidomorselli.it/
Dreißig Jahre danach
- Bericht in ital. Sprache (Trent'anni dopo) der Online-Seite des ital. Senders RAI anlässlich der Herausgabe des 1. Bandes (Romane I) einer Gesamtausgabe der Werke von Morselli durch Adelphi!

Guido Morsellis italienischer Verlag Adelphi ! (Keiner der deutschen Verlage, die Morselli in ihr Programm übernommen hatten, präsentiert den Autor derzeit online!)

Vincenzo Guerrazzis Erzählung, IN THE PO RIVER DELTA WITH PAVESE, MORSELLI AND HEMINGWAY - Sehr aufschlussreicher Bericht über ein fiktives Aufeinandertreffen der genannten Schriftsteller (im ital. Original und engl. Übersetzung von Elaine Bennett; direkter Link nicht möglich, man folge dem Werkverzeichnis von Guerrazzi!)

HISTORY AND THE INQUISITOR: NOTES ON THE SCIENCE FICTION OF VALERIO EVANGELISTI - Anlässlich der Besprechung des genannten Buchs kommt Luca Somigli von der Toronto University auf den Stellenwert Guido Morsellis innerhalb der SF zu sprechen (in engl. Sprache).

VALENTINA FORTICHIARI: Guido Morselli in cerca di editore und Briefwechsel Morsellis (in ital. Sprache) mit Verlagslektoren in den 60er Jahren, insbesondere mit Italo Calvino, der seinerzeit bei Einaudi tätig war.

Dreißig Jahre danach - Bericht in ital. Sprache (Trent'anni dopo) der Online-Seite des ital. Senders RAI anlässlich der Herausgabe des 1. Bandes (Romane I) einer Gesamtausgabe der Werke von Morselli durch Adelphi! - Inzwischen (08/2012) herausgenommen!

KLfG (Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, edition text+kritik)

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REZENSION(EN)
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Karpinsky hilf! (zu: Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit)

Abenteuer und Politik (zu: Licht am Ende des Tunnels)

Vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (zu: Rom ohne Papst)

2002-2012  © by Janko Kozmus
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