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Rezension: → Tahar Ben Jelloun - Der Gedächtnisbaum

Moha der Verrückte, Moha der Weise

Der bereits 1989 in deutscher Übersetzung erschienene Roman Der Gedächtnisbaum von Tahar Ben Jelloun ist eines der herausragenden Werke des marokkanischen Schriftstellers; das französische Original mit dem Titel, mit dessen wörtlicher Übertragung auch diese kleine Rezension überschrieben ist, verhalf ihm in Frankreich zum literarischen Durchbruch.

Tahar Ben Jelloun ist wohl einer der angesehensten arabischen Schriftsteller aus westlicher Sicht. Für seinen im Jahre 2001 erschienenen Roman Das Schweigen des Lichts, einem Empörung auslösenden Bericht aus einem Strafgefangenenlager in seiner Heimat wurde er im Juni dieses Jahres mit dem hoch dotierten irischen Literaturpreis IMPAC 2004 ausgezeichnet. Hier scheint "Der Araber als guter Europäer", wie die konservative Tageszeitung Die Welt titelt, ausgezeichnet worden zu sein. Ein deutliches Signal im Kontext der Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr die arabische Welt hervorhebt, offiziell heißt dies seltsamerweise: Arabische Liga. Eine politische Organisation, die mit Sicherheit unzählige Sitzungsprotokolle, jedoch weder einen Roman noch ein einziges Gedicht produziert hat. Es sei denn, man wollte den häufigen Hang zum Blumigen im arabischen Ausdruck zu Lyrik stilisieren.

Tahar Ben Jelloun, der marokkanische Autor, der seit Jahrzehnten auch in Frankreich lebt und arbeitet, genießt große Anerkennung als Romancier, Essayist, Lyriker wie auch als Kritiker. Seine Buchbesprechungen in Le Monde finden im frankophonen Literaturbetrieb weite Beachtung. Doch auch seine Urteilskraft in punkto arabischer Kultur und Politik, bis hin zu aktuellen Fragen des islamischen Fundamentalismus wird immer wieder nachgefragt. Auch von wichtigen deutschen Blättern wird Ben Jelloun neuerdings gern zitiert.

Als Autor ist er hierzulande vor allem durch die zuletzt erschienenen Bücher Papa, was ist der Islam und Papa, was ist ein Fremder bekannt geworden. Man darf vermuten, dass beide Bücher den Klärungsbedarf des soziokulturellen Hintergrunds aktueller Vorgänge nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen stillen konnten. Selbst Bundesinnenminister Schily trug zu solch liberaler Aufklärung bei; gemeinsam mit seiner Tochter spricht er den Text zur Audio-CD nach dem Buch Papa, was ist ein Fremder.

Zurück zum Protagonisten des Romans Der Gedächtnisbaum: Die Figur des Moha ist im Maghreb wohl bekannt, "Moha die Verwirrung. Die Weisheit und der Hohn. Gefolgt von einer Schar Kinder fegt er durch die Stadt wie ein Sandsturm. Moha ist ein ewiges Kind. Er mag die Erwachsenen nicht." Moha schläft auf einem Baum, dem Baum der Erinnerung und erzählt seine Geschichten.

Den besonderen Reiz dieses Buches macht das Nebeneinander von oft erbarmungsloser Realität und poetischer Phantasie aus. Eine faszinierende Mischung, die die Aufmerksamkeit auch beim Wiederlesen des kleinen Buchs nicht erlahmen lässt. Moha hat viel erlebt, er kennt die Menschen. Aus dieser Kenntnis schöpft er sein Mitgefühl - etwa für den Gefolterten -, seine Solidarität, aber auch seine Anklage, wenn er beispielsweise den Bankdirektor in einen Dialog verwickelt, in dessen Verlauf er ihn fragt, ob er manchmal zum Baum gehe. "Welchen Baum ?...". Moha antwortet: "Der Baum deiner Vorfahren, der Baum, der einst die Kinder des Jahrhunderts gegessen hat ... Du hast einen idealen Platz, ganz nah am Himmel, du könntest einschreiten, damit das Massaker aufhört." "Welches Massaker?" "Das der Kinder, die mit einem Stern auf der Stirn geboren werden."

Doch selbst Moha weiß nicht alles. Sucht er Rat, geht er zum Baum. Moha hat diesen Baum, der die Kinder liebt, vor einem Jahrhundert selbst gepflanzt. Ein Akt der Selbstvergewisserung. Moha schläft auf dem Baum, er bewohnt ihn, und der Baum wiederum bewohnt Moha. Eine schöne Vorstellung: das ureigene Selbst einzupflanzen, zu sehen wie es gedeiht. Es hat seinen festen Platz, geht niemals verloren. Auf diesem Baum sitzt er, lauscht den Stimmen, die sonst ungehört blieben: Die Stimme des Gefolterten, die Stimmen der entrissenen Magd Aïscha und der schwarzen Sklavin Dada, die dem Patriarchen ausgeliefert sind, der vor allem letzterer Schreckliches antut. Neben vielen anderen stehen diese Einzelschicksale stellvertretend da.

Der Patriarch als Symbol für Macht, Machtmissbrauch sowie die Perversionen der Macht. Auch dies gehört zum Maghreb, zum arabischen Westen. Der Gedächtnisbaum vergisst nichts und Moha leiht ihm seine Stimme. Eine Stimme, die betörend erzählen kann, die den Dialog meisterhaft einzusetzen weiß in der Auseinandersetzung, im philosophischen Streit und in der unwiderstehlichen Provokation. Am tiefsten jedoch lotet die Stimme die Möglichkeiten der Sprache aus, wenn sie zur beschwörenden Anrufung ansetzt. Da wird sie fragend und bohrend; sie gibt keinen Millimeter preis, sie dringt ins Innerste der Dinge vor.

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Moha der Verrückte ...
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Der Gedächtnisbaum ist ein außergewöhnlicher Roman, der herkömmliche Erwartungshaltungen an diese Gattung frustriert und dessen Nähe zur Lyrik besondere Aufmerksamkeit verdient und verlangt.

(Originaltitel: Moha le fou, Moha le sage)

9/2004 © by Janko Kozmus
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