Bewegung
Erzählung
Eins
der interessantesten Elemente, das Aristoteles in seine Physik
aufgenommen hat, sind die Paradoxa des Zenon, die dieser gegen
seinen Kritiker Parmenides richtete. Neben anderen gehören
dazu auch zwei Paradoxa, die von der kinematographischen Hypothese
ausgehen, dass Raum und Zeit aus unteilbaren Mindestgrößen
bestehen, aus Raumatomen und Augenblicken.
Im Paradoxon des fliegenden Pfeils zeigt Zenon, dass der Pfeil
stillsteht. Denn zu jedem Augenblick verweilt er an einer
bestimmten Stelle. Weder bewegt er sich dort, wo er ist, noch
wo er nicht ist. Somit bewegt er sich überhaupt nicht.
"Gebt acht, Kinder..." Das sagte sie jeden Tag,
seine Mutter. Er hörte kaum hin, dann kam der Zusatz,
der ihn beinahe doch noch stutzig gemacht hätte:
"... ich habe von weißen Blumen geträumt!"
Was das bedeutete, wusste er längst. Schließlich
war er schon fast zehn Jahre alt und seine Mutter klärte
ihn regelmäßig über lebenswichtige Zusammenhänge
auf, wie diesen: Weiße Blumen sind die Traumboten des
Todes, sie bedeuten Gefahr, tödliche Gefahr. Er hat vergessen,
ob er dieses eine Mal die Ermahnung der Mutter ernst genommen
hat oder ob sie untergegangen war im Wust der ständig
mit auf den Weg gegebenen Hinweise zur Kleiderordnung und
zur Vorsicht. Am Ende des Tages jedenfalls erinnerte er sich
nur allzu gut an diese Warnung, und er würde sie zeit
seines Lebens nicht vergessen.
Den Schulweg hätte er im Schlaf bewältigen können.
Es galt eine einzige große, verkehrsreiche Straße
zu überqueren, der Rest war ein Kinderspiel. Er teilte
den Schulweg mit einer Klassenkameradin. Und irgendwie fühlte
er sich für sie verantwortlich. Ob er etwas älter
war als sie oder ob er ermahnt worden war, als Junge das Mädchen
beschützen zu müssen, kann er nicht mehr sagen.
Sein Gefühl redete ihm jedenfalls ein, er sei verantwortlich.
Unmittelbar umgesetzt, hätte dies bedeuten müssen,
die Klassenkameradin an der Hand zu nehmen. Aber das konnte
er natürlich nicht, da sie eben ein Mädchen war.
So liefen sie einträchtig nebenher, noch etwas müde,
die Schulranzen merklich schwer, das Herbstlaub krachte unter
ihren Schritten. Eine Abkürzung über eine Wiese
und schon war das Gebrause der großen Straße zu
hören. Der Lärm bedeutete wie üblich viel Verkehr;
die Autos rasten von links und rechts heran, was zu jener
Zeit, zu Anfang der 60er Jahre, nur an großen Verkehrsadern
der Fall war.
Sie standen an der Straße. Ob in zumutbarer Nähe
ein Fußgängerübergang mit oder ohne Ampel
war, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Vermutlich nicht,
sonst hätte er ihn höchstwahrscheinlich benutzt,
schon um sich dem Mädchen gegenüber aufzuspielen.
So mussten sie eben warten, bis der endlose Verkehrsstrom
für einen Moment abriss. Sein ganzer Körper war
in einer Spannung, die Warten bedeutete. Doch während
er noch ausharrte, war seine Schulkameradin, unbemerkt von
ihm, er war seltsamerweise viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt,
schon losgegangen und als er das realisierte, war folgender
Zustand erreicht, den er am besten mit obigem Paradoxon veranschaulichen
kann:
Seine Freundin war in der Straßenmitte angelangt und
von rechts kam donnernd ein Müllwagen herangefahren.
Die drohende Gefahr hatte seine Wahrnehmung aufs Höchste
geschärft. Es war, als wäre die Szene zum Standbild
gefroren. Er sah seine Freundin in der Mitte der Straße
und keine zehn Meter davon entfernt den riesigen Wagen der
Müllabfuhr. Weder bewegten sich seine Freundin oder der
Wagen dort, wo sie waren, noch wo sie nicht waren. Somit bewegten
sie sich überhaupt nicht. Warum aber tat er in diesem
Moment etwas, das ihm über viele Jahre hinweg Alpträume
bescherte und ein Schuldgefühl einimpfte?
Er rief, er schrie, so laut er konnte, seiner Freundin zu
"Bleib steh'n!" Offensichtlich hatte er laut genug
geschrieen, denn sie blieb tatsächlich wie angewurzelt
stehen. Sie war stehengeblieben, weil er ihr das zugerufen
hatte.
Ob sie von sich aus ebenfalls stehengeblieben wäre oder
ob sie, wäre sie weitergegangen, noch rechtzeitig aus
dem Gefahrenbereich herausgekommen wäre, ist eine rein
akademische Frage. Tatsache ist, dass das riesige Gefährt
seine Freundin erfasste und er mit ansehen musste, wie ihr
zarter Kopf von überdimensionalen Rädern förmlich
zermalmt wurde. Erst jetzt fragt er sich, ob er tatsächlich
gesehen und gehört hat, wie ihr Kopf zerquetscht
worden ist oder ob er seinen Blick im letzten Moment abwenden
konnte und sich den Rest einbildete. Jedenfalls ist dieses
Bild in ihm präsent, es verdrängt alle anderen in
der unmittelbaren Folge. Wie er nach Hause gekommen ist, ob
er an Ort und Stelle war, als die Polizei angefahren kam und
gleich den Unfallverlauf schildern musste, das alles ist ihm
entfallen.
Irgendwann hörte er seine Mutter etwas sagen, was ihn
zutiefst schockierte. Die Familie seiner Schulfreundin habe
sehr viele Kinder, da falle der Verlust des einen nicht so
sehr ins Gewicht. Vielleicht würden sie sogar vom Fahrer
oder seiner Versicherung hoch entschädigt.
Ebenso unvergessen ist der Versuch, ihn zu beeinflussen, vor
Gericht zugunsten der betroffenen Familie auszusagen. Welche
Seite auf ihn eingewirkt hat, ob seine eigenen Eltern oder
die des Mädchens oder beide, hatte er vergessen. Jedenfalls
wusste er, was er vor Gericht erzählen sollte. Wieder
erwartete ihn eine Szene wie in einem Film, in der er sich
an die Wahrheit hielt. Mit traumwandlerischer Sicherheit bestätigte
er mehrmals, seine Schulfreundin mit seinem Ruf zum Stehen
gebracht zu haben. Ein einziger Alptraum. Aber es war Realität,
der ganze Unfall war passiert, musste er sich immer wieder
bewusst machen. Das abrupte Innehalten, das Ende jeder Bewegung.
Er fühlte sich von der kinematographischen Hypothese,
es gebe keine Bewegung, weil Raum und Zeit unteilbar seien,
betrogen.
Das Gegenteil dieser Voraussetzung ist die Annahme von den
unendlich teilbaren Kontinua Raum und Zeit. Zenon stellt auch
hierfür zwei Paradoxa zur Verfügung, die beweisen
sollen, es gebe keine Bewegung; eines von beiden, das von
Achilles und der Schildkröte, hat Berühmtheit erlangt:
Beim Start eines Wettlaufs hat die Schildkröte einen
Vorsprung erhalten. Achilles kann die Schildkröte nie
einholen, denn er muss zunächst den Punkt erreichen,
von dem aus die Schildkröte gestartet ist. Diese aber
hat sich inzwischen ein kleines Stück weiter bewegt usw.,
fortgesetzt bis ins Unendliche.
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