Das Bildnis der Doria Gray
Erzählung
Irgendwie
sieht das Bild heute anders aus. Anders als beim ersten Mal,
als sie‘s betrachtete, vor genau einem Jahr. Herrje, wie
unglücklich ist sie damals gewesen. Wenige Tage nur waren
vergangen, seit sie in dieser Kleinstadt, in Deutschland, gelandet
war. Und die Trennung von Giovanni lag gerade mal einen Monat
zurück. Alle Wunden lagen bloß; verheilten jedoch
allmählich und hinterließen einen Wust aufgewühlter
Erinnerung. Ja, der Schmerz hat zu ihrem Erstaunen nachgelassen.
Völlig verschwunden ist er nicht. Sie ahnt, an den nicht
vollständig vernarbten Wunden nicht allzu sehr kratzen
zu dürfen, sonst drohten sie erneut aufzureißen.
Und zu verletzen. Nein, sie will nichts verdrängen. Sie
will sich aber auch nicht mehr in diesen Schmerz versenken,
wenngleich er trotz aller Bitterkeit auch einen Beigeschmack
von Lust enthält.
Bei klarem Verstand – luzide, ein Attribut, das sie mit
Vorliebe verwendet, passt nicht ganz in diesem Zusammenhang,
obschon ein Teil, sie lächelt, der quasi lichte Aspekt,
gut passen würde –, nein, also: Bei klarem Verstand
lehnt sie eine eingehendere Beschäftigung mit der Trennung
ab sowie mit der damit verbundenen, hektischen Abreise aus England
hierher, in dieses deutsche Provinznest. Was für ein Kaff!
Und doch hat es auch einige charmante Seiten: der Fluss, die
Donau und die Altstadt vor allem, hier oben, wo sie sich jetzt
befindet, auf dem Hügel. Oh ja, es geht den Berg steil
hinauf zum historischen Kern des sehr, sehr alten Ortes, zu
den restaurierten Häusern aus dem Mittelalter, der wunderschönen
Barockkirche und diesem, wie sie in einer Gratisbroschüre
gelesen hat, aus einem Heimatmuseum hervorgegangenen Barockmuseum.
Der Teil, in dem sie sich im Moment befindet, die Galerie, umfasst
zwei Säle, die gerade mal so groß sind, nicht klein
genannt werden zu müssen, vielleicht vierzig auf sechzig
Meter jeweils messend. Sie schätzt die Anzahl der ausgestellten
Gemälde auf etwa hundert bis hundertundzwanzig. Erstaunlicherweise
befindet sich ein Rubens darunter. Es wäre interessant
herauszufinden, wie es dieses Bild hierher verschlagen hat.
Sofort denkt sie an ihr eigenes hierher Verschlagensein. Ja,
ein treffender Vergleich, es hat sie verschlagen in diese, wie
sie glaubt, typische deutsche Kleinstadt. Nein, sie bewundert
nicht den Rubens, sie steht vor dem Bild eines ihr unbekannten
Malers. Sie ruft sich ins Gedächtnis zurück, welchem
Umstand sie es zu verdanken hat, der ihre Aufmerksamkeit ausgerechnet
auf dieses Bild lenkte. Auf den ersten Blick erscheint dieses
Gemälde nichtssagend, irgendein Frauenportrait, vermutlich
aus der Renaissance, düstere, erdhafte Farben. Der dargestellten
Person kann eine gewisse Schönheit nicht abgesprochen werden.
Und die junge Frau, mit dem schulterlangen, dunkelblonden Haar,
den grünen Augen und dem großzügigen Dekolleté,
besitzt unverkennbar eine Ähnlichkeit mit ihr, mit Helen.
Dies hat sie aber erst nach längerem Hinsehen festgestellt.
Der zweite Blick galt dem Schildchen mit dem, ihr nichts sagenden
Namen des Künstlers und dem Bildtitel. Dieser hatte ihre
Aufmerksamkeit erregt. Erst nach dem Lesen des Bildtitels hatte
sie das Bild eingehender betrachtet, jedoch erst nach Minuten,
die ihr dann doch verblüffend scheinende Ähnlichkeit
zwischen der dargestellten jungen Dame und sich selbst entdeckt.
Das Bild trägt den Titel Bildnis der Doria Gray.
Schon seltsam, es Bildnis und nicht wie sonst üblich Portrait
zu nennen. Gut, das hätte sie nicht länger beschäftigt.
Was ihr aber förmlich ins Auge sprang, war dieser Name!
Doria Gray, ein unglaublicher Zufall. Da leuchtete ihr sozusagen
ihr eigener Name entgegen, nur dass bei ihr die beiden Teile
vertauscht und mit einem Bindestrich zusammen gehalten werden.
Gibt es überhaupt einen englischen Vornamen Doria? Denn
um einen englischen oder britischen Künstler muss es sich
bei diesem John Sowieso handeln, schon weil dieses Gemälde
zwischen anderen Exponaten von englischer Hand auf der linken
Längsseite des zweiten Saales platziert ist. Sie kannte
wohl Dorian als männlichen Vornamen, aber soweit ihr geläufig
war, konnte man in Good Old England nicht, wie in den vor Möglichkeiten
platzenden USA, jeglichen Begriff als Vornamen einsetzen, ein
zumindest kultureller, wenn nicht gar religiöser Hintergrund
musste nachweisbar sein. Woher also dieser Phantasiename Doria?
Jedenfalls ist es die Namensähnlichkeit gewesen, die damals
spontan ihre Aufmerksamkeit fesselte. Doria so heißt Giovanni,
ihr Mann, den sie nun weniger hasst, als vor einem Jahr. Wieder
lächelt sie, als sie wie damals, den Wochen vor der Hochzeit
wieder und wieder ihren zukünftigen Namen auf der Zunge
hat zergehen lassen: Helen Gray-Doria, das klang irgendwie aristokratisch,
das musste sie zugeben. Auch wenn sie ihren Giovanni immer aufgezogen
hatte, wenn der behauptete einem alten Genueser – er war
in Süditalien groß geworden – Geschlecht zu
entstammen.
Das Bild hängt etwa in der Saalmitte, und so muss sie nur
einige Schritte zurückgehen. Keine Sekunde wendet sie den
Blick von der jungen Doria Gray ab, bis ihre Kniekehlen an der
einzigen Bank des Saales anstoßen. Sie setzt sich. Ihr
edler Giovanni, denkt sie bitter, ließ schon bald alle
aristokratischen Hüllen fallen. Übrig blieb nur ein
kleiner süditalienischer Macho. Sie hasst sich für
diesen Gedanken, für dieses Klischee, aber entspricht es
nicht der Wahrheit?! Zum x-ten Mal fragt sie sich, ob es nicht
ihr eigenes Bild vom Süditaliener war, ihre eigene verdrängte
Erwartungshaltung, die Giovanni geradezu in diese Rolle hineindrängte.
Aber zu guter Letzt sagt sie sich, wie jedes Mal, nein, Giovanni
war und ist ein gebildeter junger Mann – zwei Jahre älter
als sie selbst - , er hat wie sie selbst Germanistik und Kunstgeschichte
studiert, in derselben Kombination, ist selbstbewusst, steht
mit beiden Füßen in der Zeit, in den Veränderungen
unserer Zeit. Er hat es nicht nötig, sich so zu verhalten,
sie so zu behandeln. Wie hat sie anfangs seine sexuelle Erfahrenheit
genossen! Seine Berührungen, die zarter nicht sein konnten
und im richtigen Moment nicht zupackender. Doch bald schon schien
ihm das zu wenig zu sein, immer weiter gingen seine Spiele.
Sie schmunzelt im Bewusstsein, alles andere als prüde zu
sein. Auch das hat sie genossen. Schließlich sprengte
er nicht nur ihre Genussgrenze, sondern jegliches Toleranzlimit.
Das Bild seiner erhobenen Hand taucht in ihr auf. Sie sieht
in die Augen der Frau auf dem Bild an der Wand, und es scheint,
als würde ihr Blick erwidert, als gäbe ihr dieser
Blick die Kraft, die Festigkeit, die erhobene Hand nicht ignorieren
zu müssen. Im Gegenteil, sie blickt dieser Hand entgegen
und weiß mit einer Bestimmtheit, die ihr bis zu diesem
Moment verwehrt geblieben ist, dass ihre Entscheidung, die erhobene
Hand zu verlassen, richtig war. Erneut lächelt sie. Nur
wenige glückliche Monate waren ihrer Ehe vergönnt,
die letztlich immer auch diese Fremdheit beinhaltet hat. Die
Distanz, die nur in Momenten sexueller Ekstase überwunden
war, rührte vielleicht von der ihnen gemeinsam vertrauten
Sprache, der deutschen, die beiden schließlich doch nur
ein zweites, ein übergestülptes Kleid bedeutete. Keiner
von beiden hatte länger als kurze Wochen in Deutschland
verbracht, keiner fühlte sich so heimisch in dieser Sprache,
dass er beispielsweise in ihr geträumt hätte. Die
Vertrautheit mit der deutschen Sprache erschöpfte sich
in ihrer Beherrschung. Wahre Vertrautheit zu dieser Sprache
war ihnen beiden fremd und in Momenten höchster Emotion
wechselten sie in die jeweils eigene. Noch immer spürt
sie, wie kitschig ihr zunächst seine hingehauchten italienischen
Liebeswörter erschienen, und wie sehr sie diese schon nach
wenigen gemeinsamen Nächten genoss.
Sie wird aus ihrer Grübelei gerissen, als ihr ein anderer
Besucher, sie hat sein Kommen nicht bemerkt, einen entschuldigenden
Blick im Vorübergehen zuwirft, weil er ihre Verbindung
zu ihrem Bildgegenüber für den Moment zerstört.
Sie erwidert sein Lächeln und ist einen Moment enttäuscht.
Unbewusst hat sie darauf gehofft, Andreas möge hier auftauchen.
Sie hat ihm erzählt, sich zu dieser Zeit im Museum aufzuhalten.
Vom Abschied, den sie vom Bild hat nehmen wollen, hat sie ihm
nichts erzählt, es vielleicht selbst nicht gewusst. Der
Besucher verweilt nur wenige Meter von ihr entfernt und betrachtet
eines der benachbarten Bilder, ebenfalls das Portrait einer
jungen Dame. Sie ist ihm mit den Augen gefolgt, verlässt
ihn nun und fixiert Doria Gray erneut.
Andreas ist Lehrer an derselben Schule wie sie, und er macht
ihr seit Monaten den Hof. Nun, da das Ende ihres Jahresvertrags
erreicht ist, neigt sie dazu, ihn zu erhören. Was wäre
unverbindlicher, als die Nacht vor ihrer Abreise mit ihm zu
verbringen, einfach mal wieder die Genüsse der körperlichen
Liebe zuzulassen. Wofür bestraft sie sich, warum hat sie
nicht längst auch diese Normalität in ihren Alltag
greifen lassen? Wovor sich fürchten? Was würdest du
tun, Doria? Natürlich weiß sie, dass die Antwort
in ihr selbst liegt. Im Grunde fürchtet sie, sich zu verstricken,
die Klarheit ihres Entschlusses, eine angebotene Vertragsverlängerung
ausgeschlagen zu haben, aufzugeben. Noch könnte sie zurück.
Bleiben! Das böte ihr Gelegenheit, dieses Bild erneut zu
besuchen, zu betrachten, es vielleicht wieder und wieder aufzusuchen,
sich in den Blick ihres Gegenübers zu versenken, ein Blick,
der von einer Intensität ist, als sei es ein Blick in das
eigene Innere, das eigene Selbst.
Ihr Dasein war in diesem Jahr voller äußerlicher
Veränderungen, im Inneren jedoch scheint sie zurück
zu ihrer alten Sicherheit gefunden zu haben. Die Sicherheit,
die durch das Zusammensein mit Giovanni so sehr erschüttert
worden ist. Als sie sich vor einem Jahr diesem Bild gegenüber
sah, erblickte sie eine schöne, junge Frau, eine Klarheit
ausstrahlend, die sie sich für sich selbst gewünscht
hätte. Der Künstler habe, hat sie vermutet, die in
seiner Zeit üblichen Glättungen nicht nur der Haut,
sondern auch des Ichs der dargestellten Frau vorgenommen. Blickt
sie nun konzentriert zu der Frau auf, so scheint das dem Leben
zugewandte Lächeln verschwunden zu sein. Ein leichter Schatten
umspielt die Mundwinkel der jungen Dame, als habe sie eine ihr
unliebsame Entscheidung zu treffen oder aber bereits getroffen,
ohne mit der Wahl zufrieden zu sein, da keine echte Alternative
bestanden habe. Eins scheint Helen klar; materielle Probleme
werden der Lady mit Sicherheit zeitlebens erspart geblieben
sein.
Helen zieht mit einem tiefen Atemzug die ihr für diesen
Ort typisch scheinende abgestandene, Jahrhunderte in sich fassende
Luft ein. Sie spürt, wie große Erleichterung sie
erfasst und das Bedürfnis, das eigene Gesicht zu betrachten.
Warum hat sie kein Kosmetiktäschchen dabei, um im Handspiegel
ihre Züge mit denen der Doria Gray vergleichen zu können?
Wieso hat sie nicht daran gedacht, als sie ihr winziges Zimmer
am Fuße der Altstadt verlassen hat, um dieses Museum aufzusuchen?
Die Luft ist klar gewesen, ihre Schritte kräftig, sie fühlte
sich frisch wie seit ewigen Zeiten nicht mehr. Der steile Aufstieg
ermüdete sie nicht, im Gegenteil: Mit jedem Schritt fühlte
sie sich gefestigter.
Helen steht auf und verlässt, ohne das Bild noch eines
Blickes zu würdigen, ruhig den Saal und das Museum. Sie
grüßt den älteren Herrn, der die wenigen Besucher
einlässt und spürt den leichten Wind, der ihr Gesicht
umspielt.
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