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Rezension: → Abdulrazak Gurnah - Ferne Gestade

Bilder einer versunkenen Welt

Abdulrazak Gurnahs neuer Roman Ferne Gestade* aus Sansibar

Von Manfred Loimeier (©)

Ein sehr alter Mann, des Englischen offenbar nicht mächtig, beantragt Asyl auf dem Flughafen in London. Der britische Grenzbeamte behandelt den betagten Herrn freundlich-förmlich, und eine Sozialarbeiterin bemüht sich um einen Dolmetscher für den seltsamen Flüchtling. Wie es der Zufall will, entpuppt sich dieser Dolmetscher just als Sohn jenes Mannes, mit dessen Pass der alte Asylbewerber seine afrikanische Heimat Tansania verlassen konnte.

Der 1948 in Sansibar geborene, seit 1968 in Großbritannien lebende Literaturdozent und Schriftsteller Abdulrazak Gurnah, der seinen neuen Roman Ferne Gestade mit diesem außergewöhnlichen Asylantrag eröffnet, erzählt nun aber keine vordergründig vorwurfsvoll gehaltene Geschichte über einen entrechteten Menschen aus der Dritten Welt und über die furchtbare Ablehnung, die ihm in der englischen Metropole entgegenbrandet. Die Handlung, die Gurnah entwirft, strebt in eine andere Richtung und wird zur Innenschau, später zum Dialog zweier Männer, deren Familien seit Generationen miteinander bekannt, entfernt verwandt, und auch verfeindet und zerstritten sind.

Ein bisschen erinnert dieser sechste Roman des tansanisch-britischen Autors an das preisgekrönte Buch Geheimnisse des Somaliers Nuruddin Farah, denn auch in Ferne Gestade kommt die Wahrheit dieser Familienhistorie nur allmählich ans Tageslicht, verbergen sich hinter einer vermeintlich unstrittigen Version einer Generationensaga zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten. Zudem folgt Gurnah in seinem jüngsten Roman - und das legt er in zahlreichen Anmerkungen selbst offen - der Erzählerfiguren-Konstellation, die er in Herman Melvilles Geschichte um Mr. Bartleby vorfand: ein Mann, dessen Leben ein anderer erzählt.

Im Gegensatz zu Mr. Bartleby spricht der alte Mann in Ferne Gestade aber bald selbst, wenngleich er den Jüngeren, den Dolmetscher - der übrigens von Beruf Literaturdozent und Schriftsteller ist - als Stichwortgeber und Erinnerungskatalysator braucht. Allerdings gerät die eigentliche Haupthandlung des Romans - also der Asylantrag und seine Bearbeitung - gegenüber der schließlich ermüdend monologischen Innenschau des älteren Herrn, den Selbstzweifeln des jungen Mannes und den Erklärversuchen einer ohnehin schon verschachtelten Genealogie geradezu in Vergessenheit. Aus den Erinnerungsfetzen selbst formt sich zwar das beeindruckende Mosaik einer versunkenen Welt, nicht aber ein durchgehend flüssiger Text mit einem tragfähigen Spannungsbogen.

Ferne Gestade bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück, die Gurnahs vorletzter Roman Donnernde Stille weckte. Auch in jenem Roman, mit dem die rührige Edition Kappa die Publikation von Gurnahs Gesamtwerk in deutscher Übersetzung eröffnete, hatte sich der Autor auf die Suche nach einer vergessenen Geschichte gemacht, nach den Bruchstücken einer zersplitterten Identität gemacht.

Gleichwohl treten nach der Lektüre von Ferne Gestade immer wieder Szenen aus einer anderen Welt vor die Augen und lassen diesen Roman trotz seiner Defizite nicht vergessen. Szenen einer verflossenen Welt, die in der Erinnerung des älteren Protagonisten gespeichert sind. Seine Rückschau berichtet von der Tradition ostafrikanischen Lebens vor, während und nach der Kolonialisierung Sansibars durch die Deutschen und die Briten. Die Handelsbeziehungen und der Schiffsverkehr nach Indien und Fernost im Rhythmus der Winde, der Binnenhandel auf dem afrikanischen Kontinent prägen das lebendige Bild einer Welt, die lange den Einflüssen aus Europa widerstand. Aber auch die politische Willkür in den Jahren nach der Unabhängigkeit und der wirtschaftliche Ruin Tansanias infolge eines glorifizierten eigenen sozialistischen Wegs gehören zu dem Panorama, das Gurnah von seiner Heimat malt.

In diesen, nun fast schon wieder zu gelehrig vorgetragenen Passagen erreicht der Roman Ferne Gestade den Reiz von Gurnahs Karawanen-Buch Das verlorene Paradies, das 1994 für den Booker-Preis nominiert war. Diese sinnlichen Ausflüge in eine wenig vertraute Geschichte hauchen dem Roman Ferne Gestade das Leben ein, geben ihm die Atmosphäre und den Handlungsspielraum, den das Erzählerfiguren-Konstrukt im Haupterzählstrang unterdrückt.

Es ist schon klar: Gurnah wollte - gleichsam selbst als Dolmetscher, Interpret oder Mittelsmann - einem Menschen ohne Stimmgewalt zur Sprache verhelfen und damit auch die Bedeutung einer Historie unterstreichen, die im Selbstverständnis der westlichen Welt kaum Berücksichtigung findet; die Asylfrage ist dagegen nachrangig. Aber so gesichtslos, wie die Figur des Dolmetschers im Schatten des Protagonisten bleibt, so leblos wirkt die vordergründige Romanhandlung im Vergleich zu der Pracht, die in den historischen Exkursen zu Tage tritt. In der Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit ist Gurnahs Roman Ferne Gestade missglückt, im Porträt einer fernen Welt, einer vergangenen Gesellschaft indessen überaus gelungen.

Abdulrazak Gurnah: Ferne Gestade. Übersetzt von Thomas Brückner. Edition Kappa, München 2002, 408 Seiten, 21 Euro.

(Originaltitel: By the Sea)

Die Rezension wurde im Jahr 2002 verfasst, für die Marabout-Seite übernommen 12/2003

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