An
Stelle einer Rezension:
Murakami
lesen oder: Ein Elefant verschwindet
Ganz
allmählich erwache ich und versuche mich zu orientieren.
Es dauert mindestens eine halbe Minute, bis ich begreife, in
Paulas Bett zu liegen. Ich fühle mich wohl, es ist gemütlich
warm. Ich denke an Paula, die mir Leid tut. Die Arme musste
wie immer früh raus. Paradoxerweise paddelt sich der Gedanke,
eigentlich glockenwach zu sein, nur allmählich frei. Ich
guck' rüber zum Wecker. Nicht dass es für mich wichtig
wär', aber ich guck halt mal rüber und seh' ein Buch
da liegen. Nichts Besonderes, bei Paula liegt immer ein Buch
auf dem Nachttisch. Normalerweise werfe ich beim Hinlegen oder
Aufstehen einen Blick darauf, und es ist mir nicht mal wichtig,
ob ich Titel und Autor identifiziere. Jetzt gucke ich aber noch
mal und habe Gewissheit, sie liest mal wieder was Neues. Auch
nichts Besonderes, bei ihrer Frequenz. Ich seh' den Wecker,
der schnittig flach und digital leuchtend 11:11 anzeigt. Dann
nehme ich das Buch, ein dünnes, doch mal in die Hand. Wirklich
nicht dick, scheint ein Japaner zu sein, Murakami, nie gehört,
Haruki Murakami. Ich guck' rein, es sind Kurzgeschichten. Na,
so was les' ich ja nu' schon gar nicht, reine Zeitverschwendung.
Nen dicken Roman schon mal, zu Weihnachten vielleicht, aber
so was, was soll das schon sein. Ein verschwundener Elefant,
sollen 'se mal suchen. Ich leg' das Buch zurück, 11:11,
eingefroren, was!? Schon komisch, hier bei Paula vom Elefanten
zu lesen. Ich lehn' mich wieder zurück und denk' an sie,
die mich in schönen Momenten ihren Elefanten nennt.
Als ob ich ein Porzellanzertrümmerer wär'. Und fett
bin ich auch nicht. Klar, ich bin neununddreißig und habe
ein paar Pfunde mehr, als vor zehn Jahren. Oder vor zwanzig.
Sie sagt, sie mag mich so, wie ich bin.
Das
war so richtig meine Zeit, die Anfangsachtziger. Jetzt denke
ich nicht mehr nur an Paula, ich beginne sie regelrecht zu fühlen.
Mit den Bildern meiner Wilden Zeit vermischt sich ihrs, genauer:
das Gestrüpp ihrer Haare. Ich seh' sie vor mir, wie sie
ins Gesicht gerutschte Strähnen wegbläst. Sie ist
ganz nah, ich fühle sie! Dabei bin ich mir nicht sicher,
ob dieser Schleier, der über dem Gefühl liegt, die
Distanz in der Zeit bedeutet oder eher die Zärtlichkeit,
mit der ich sie angefasst habe. Einen Schleier habe ich
später jedenfalls gelüftet. Das war wirklich schön,
ich spüre es noch zwischen den Beinen. Die Arme, es ist
spät geworden heut' Nacht, und sie arbeitet nun schon wieder
über zwei Stunden. Sie sagt, das mache ihr nichts aus,
wer's glaubt! Ich fühle mit ihr. Gar nicht so einfach,
bei diesem Gedanken kein schlechtes Gewissen zuzulassen. Ob
ich mich in sie verliebt habe? Jedenfalls ist das hart, jeden
Morgen früh raus, da hin zu müssen und zu funktionieren,
nein danke! Nicht meine Sache! Kein Wunder, dass die so was
liest, verschütt' gegangene Elefanten. Mit der Zeit, wenn
du jeden Tag, jede Woche, jeden Monat ... neee! Aber irgendwas
muss sie an dem Buch doch finden! Ich fasse also noch mal rüber,
guck' rein und denke, kannst ja mal die Titelstory anlesen.
Kaum drin, bin ich auch schon durch. Was es gebracht hat?
Wusst'
ich doch schon vorher, nicht viel, außer vielleicht, dass
ich, wogegen ich mich meistens wehre, zum Nachdenken angeregt
wurde. Wie kann man sich das erklären? Ein Elefant, der
samt Wärter einfach verschwindet. Ich bin mir nicht sicher,
ob dieser Murakami überhaupt eine Lösung mitliefern
wollte, vielleicht habe ich's auch überlesen, weil ich
abgelenkt war, weil mich die Geschichte an die Elefanten in
Uganda erinnert? Ich kratz' mich und guck noch mal ins Inhaltsverzeichnis.
Wie war das, irgendwas mit Hitler und Polen und Römisches
Reich? Ich les' noch mal: Der Untergang des Römischen
Reiches, der Indianeraufstand von 1881, Hitlers Einfall in Polen
und die Sturmwelt! Imposant, muss ich schon sagen! Und das
Ganze hat sieben Seiten, ganz schön frech. Die paar Seiten
kannst du noch lesen, denke ich mir. Wieder bin ich unkonzentriert,
denke immer wieder an Uganda, an ein Erlebnis, an das ich lange
Jahre nicht mehr gedacht habe. Es war vollkommen weggerutscht,
wie in einen tiefen Spalt. Jedenfalls geht's um ein kleines
Abenteuer, in dem die riesigen Grauhäute die Hauptrolle
spielten. Wir waren auf dem Weg zu der etwa sieben Kilometer
von der Hauptstraße entfernten, am Nil gelegenen Lodge.
Die Bilder dieses Erlebnisses werden deutlicher. Mir ist beinahe
so, als spürte ich in diesem grauen Moment die afrikanische
Sonne: Wir lassen uns von einer kleinen Gruppe Einheimischer
mitnehmen, weil wir den genauen Weg durch die Wildnis nicht
kennen. Es sind Bedienstete, die in der Lodge, wie in dieser
Weltgegend eine Herberge, ein Hotel bezeichnet wird, arbeiten.
Dieser speziellen Herberge, so sagt man mir und meinem jungen
Reisebegleiter, sei ein Forsthaus angeschlossen. Das vor allem
und die angeblich traumhafte Lage am Nil, mitten in einem Naturschutzgebiet
gelegen, hat unser Interesse geweckt. Zwei Frauen mit gefüllten
Körben auf dem Kopf und ein Jugendlicher geben uns das
Geleit. Wir sind etwa zwanzig Minuten unterwegs. Der enge Pfad
durch den Busch zwingt uns im Gänsemarsch zu marschieren.
Gras und Büsche wachsen nicht sehr hoch, und ich genieße
den Blick auf die unberührte Landschaft und auf den wiegenden
Gang der Frau vor mir. Das Gewicht meines Rucksacks spüre
ich kaum. Für hiesige Verhältnisse ist es, weiß
ich nun wieder, ein milder Sonnentag. Plötzlich bleibt
die kleine Gruppe vor uns stehen. Eine der beiden Frauen macht
uns, Musungi nennen sie uns hier, ein Zeichen, ebenfalls
stehenzubleiben. Obwohl wir nicht erkennen, was die Ursache
für ihr Verhalten ist, befinden wir es für besser,
ihrem Rat zu folgen. Angestrengt versuche ich zu erkennen, indem
ich den Blicken der anderen folge, was sie bewegt haben kann,
anzuhalten. Trotz aufgerissener Löwenmäuler im Kopf,
kann ich nichts ausmachen, was Gefahr bedeuten würde. Gar
nicht weit entfernt von uns erkenne ich lediglich einige graue
Felsblöcke. Es scheint, als richte sich der allgemeine
Blick auf diese Riesensteinbrocken. Und plötzlich weiß
ich, warum. Die Felsblöcke bewegen sich, unendlich langsam
zwar, aber sie bewegen sich. Es sind Elefanten. Eine - wie ich
mir vorstelle - kleine Herde von etwa zwanzig bis fünfundzwanzig
Tieren, die Jungelefanten mit eingerechnet. Die Frau, die das
Zeichen zum Halt gegeben hat, dreht sich wieder uns zu und deutet
mit dem rechten Zeigefinger am Mund an, wir sollten ruhig sein.
Was mich angeht, ist das vollkommen überflüssig. Abgesehen
von der Einsicht, die Tiere besser nicht aufzuscheuchen, ist
der Anblick der majestätisch vorüber wandelnden Elefanten
so überwältigend, dass ich wahrscheinlich bass erstaunt
mit offenem Mund dastehe und vermutlich ziemlich hirnlos aussehe.
Es dauert endlos, bis auch die letzten Nachzügler vorübergezogen
sind und wir unseren Weg wieder aufnehmen können. Das war
1983 oder '84. Und jetzt liege ich hier und kann mich auf so
ein Büchlein nicht richtig konzentrieren. Obwohl mir diese
Art von Ablenkung eigentlich gefällt. Und was soll ich
sagen, diese kleine aufgeblasene Geschichte hat mir, soweit
ich sie erfasst habe, sogar gefallen! Absolut klare Beziehung,
die die beiden da haben. Sie kommt auf Ansage und bringt's Essen
gleich mit! Nich übel! |
Paula
wird wohl so langsam ans Essen denken. Sie sagt, sie hätten
'ne ganz gute Kantine, ich guck' noch mal auf die Uhr: 11:11.
Auch egal, heute ist's eben den ganzen Tag elf Uhr elf. Als
ob das was mit mir zu tun hätte. Und verdammmichnochmal!
plötzlich fange ich an, so komische Gedanken zu kriegen,
'türlich hat das nix mit dem Büchlein zu tun.
Ich
stehe auf und mache mir 'nen dicken Kaffee, lege mich wieder
hin, nehme den verschwundenen Elefanten in die Hand. Woher kam
diese Erinnerung auf einmal? Mir ist, als wär' sie noch
einmal aufgeblitzt, bevor sie dann für ewig im Meer des
Vergessens versinkt. Gott, wie pathetisch, aber manchmal mag
ich es genau so. Ich blättere wieder und lese was von einem
Bäckereiüberfall. Zwei Kerle haben Hunger und anstatt
sie eine Bank überfallen, überfallen sie eine Bäckerei.
Sonst kriege ich wenig mit. Irgendwie kurbelt es da im Kopf.
Das bißchen Geld vom Amt, zum Sterben zu viel ... Sei
doch mal ehrlich, denk' ich mir, wenn's nicht immer so 'ne Paula
gäb', wärst du doch längst aufgeschmissen. Aber
mit Paula ist das anders, echt gut und wirklich lange, schon
der dritte Monat. Vielleicht ist sie die Richtige, gut ist jedenfalls,
dass sie nachfragt. Ich komme so langsam in Rechtfertigungszwang.
Nicht, dass ich mir von ihr oder von irgend jemandem reinreden
ließe, aber sie wirft mich auf meine eigenen Zweifel zurück.
Inzwischen bin ich beim zweiten Bäckereiüberfall.
Den find ich nicht mal schlecht. Allein diese Idee: Eine Geschichte
Bäckereiüberfall zu nennen und die nächste
als Der zweite Bäckereiüberfall zu präsentieren.
Inzwischen ist einer der beiden Möchtegernhelden verheiratet.
Seine frisch Angetraute und er kriegen mitten in der Nacht eine
Hungerattacke. Er erzählt vom historischen Bäckereiüberfall.
Und sie sagt, los. Aber es ist nicht eine einzige Bäckerei
offen. Was tun?
Bedürfnisse
muss man befriedigen. Ich steh' auf. Beim Pinkeln lächele
ich über den zweiten Überfall. Auf dem Weg zurück
zum Bett bahnt sich eine gewisse Unschlüssigkeit in dem
Gedanken ihren Weg, ob's nicht doch besser wäre, nach Hause
zu fahren? Ich möchte Paula nicht auf den Keks gehen. Vielleicht
würde sie gerne mal alleine sein, wenn sie von der Arbeit
nach Hause kommt. Den dritten Tag in Folge bin ich jetzt bei
ihr. Weiß gar nicht mehr, wie's bei mir zu Hause aussieht.
Chaotisch wie immer, keine Frage.
Einmal,
als ich ein Buch, das sie mir zeigte, achtlos wieder weglegte,
sagte sie, sei kein Elefant, stell Dir vor, das Buch
wär' ich! Ich entschließe mich zu bleiben. Das hat
mir gefallen, das ist noch gar nicht so lange her, vielleicht
zwei Wochen. Es gab 'ne Zeit, da habe ich selbst sehr viel gelesen.
Wie kommt's, dass ich fast nur noch fernsehe? Ich lege mich
wieder hin. Aber Moment mal, wenn ich so recht überlege,
war das Buch nicht auch von 'nem Japaner? Ja natürlich,
das war vom selben Schriftsteller. Jetzt fällt's mir wieder
ein. Wie hieß das gleich wieder ... irgendwas mit Schaf.
Der scheint's mit den Tieren zu haben. Der Gedanke, Musik machen
zu wollen, lässt mich fast aufstehen. Statt dessen denke
ich an Schaf und nehme erneut den Elefanten in die Hand. Als
ich die etwas längere Schlafgeschichte ausgelesen habe,
fange ich an, diesen Murakami zu mögen, der blickt es:
Irgendwann muss man für alles bezahlen.
Der
Blick auf den Wecker würde nichts bringen, weiß ich
inzwischen. Ich lege das Buch zurück, stehe auf. Der Horror,
wenn ich mir das vorstelle! Das ist genau der Punkt, weiß
ich jetzt wieder ganz genau, sich auf diesen ganzen Trott nicht
einzulassen. Verdammt richtig, auf der anderen Seite ... was
passiert, wenn ich von Paula genug habe oder sie von mir. Der
Tag kommt so zwangsläufig, wie die Tatsache, dass sie sich
eben auf so Sachen einlässt, ich dagegen meinen Schlaf
absolut benötige. Der dritte Monat, seit Jahren war ich
nicht mehr so lange mit ein und derselben Frau zusammen. Beim
Anziehen bin ich wieder ganz ruhig. Ich sehe mich aufmerksam
.., nein, nicht aufmerksam, feierlich ... ich sehe mich feierlich
in Paulas Zimmer um. Irgendwie will ich's mir nicht eingestehen,
aber im Grunde weiß ich es schon.
Nein,
ich werde weder eine Bäckerei überfallen noch eine
Scheune anzünden. Das nicht. Vielleicht esse ich irgendwo
'nen Hamburger, womöglich begegne ich sogar einem Chinesen.
Während ich die Tür hinter mir schließe, tut
es mir bereits Leid.
2002
© by Janko Kozmus
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