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Rezension: Véronique Tadjo - Der Schatten Gottes

Das Ende der Gleichgültigkeit

Véronique Tadjo über den Völkermord in Ruanda

Von Manfred Loimeier (©)

Es gibt Ereignisse in der Gegenwart, die wegen ihrer historischen Sonderstellung einer literarischen Gestaltung geradezu entgegenharren. Die deutsche Wiedervereinigung gehört dazu, das Ende der offiziellen Apartheid in der Republik Südafrika, das Bürgerkriegs-Karussell in den Staaten des westlichen Afrika und ebenso der Völkermord 1994 in Ruanda.

Rund eine Million Tote und etwas mehr als eine Million Flüchtlinge in dem zentralafrikanischen Land - daran kommt kein afrikanischer Schriftsteller vorbei. Meint man. Aber mit Ausnahme des nigerianischen Literaturnobelpreisträgers Wole Soyinka zeigten afrikanische Intellektuelle eine überraschende Zurückhaltung, was den Genozid im Herzen Afrikas vor mittlerweile sieben Jahren angeht. Ruanda blieb zwar ein Thema für franko-belgische Journalisten, aber kaum ein afrikanischer Autor nahm sich bisher dessen an.

Diese Vernachlässigung hat nun ein Ende. Mit dem Buch Der Schatten Gottes legt die 46-jährige Schriftstellerin und Illustratorin Véronique Tadjo aus der Elfenbeinküste einen literarischen Reisebericht vor, der auch den Schwierigkeiten Rechnung trägt, ein Grauen dieses Ausmaßes als Gegenstand der Belletristik fassbar zu machen. Kann man über diesen Völkermord schreiben, ohne ihn, der offenbar die schlimmsten Schreckensbilder der menschlichen Phantasie zum Vorbild nahm, zu verharmlosen? Kann man dieses haltlose Gemetzel widerspiegeln, ohne die Leser im entsetzlichen Anblick dieses Höllengemäldes zu lähmen oder sie, schlimmer noch, gegenüber dieser entfesselten Gewalt abzustumpfen? Tadjos Der Schatten Gottes zeigt: Man kann.

Tadjo, die seit drei Jahren in London lebende promovierte und diplomierte Literatur- und Agrarwissenschaftlerin, wählte die offene Form eines literarischen Reiseberichts und wechselte zwischen drei Linien, denen ihr Text folgt. Zum einen objektiv verbürgte Fakten, zum anderen die individuellen Berichte der Opfer und Täter, und schließlich Tadjos subjektive Assoziationen. Der Schatten Gottes ist also weder Dokumentation noch Fiktion, sondern ein halbfiktionaler Tatsachenbericht mit persönlicher Färbung.

Tadjo zitiert Untersuchungsberichte, sie führt Gespräche mit betroffenen Ruandern (welcher Ruander wäre das nicht?), und sie beschreibt ihre eigenen Schock-Erlebnisse und Irritationen. Zum Beispiel ihr Erstaunen über das normale Erscheinungsbild (für afrikanische Verhältnisse) der ruandischen Hauptstadt Kigali und über die ruhige Atmosphäre, die anscheinend ausgeglichene, später als gedämpft erkennbare Stimmung in den Boulevards der Hauptstadt, in denen Straßenverkäufer Erdnüsse und Früchte verkaufen, wie sonst in afrikanischen Städten auch. Auf den ersten Blick kein Zeichen von militärischen Verwüstungen, gerade so, als gebe es keinerlei Nachwirkungen des Bürgerkriegs.

Die Spuren des Völkermords, signalisiert Tadjo damit, haben sich in die Seelen der Ruander gegraben, und in Gesprächen mit gesuchten Zufallsbekanntschaften erhält die Autorin einen Überblick über die Bandbreite der damaligen Grausamkeiten - keine anonymisierten Fälle, sondern persönliche Schicksale. Da ist die Frau, die vergewaltigt wurde wie so viele andere Frauen; der deutsche Mann, der ohne seine ruandische Ehefrau kurz in Heimaturlaub fuhr und sie anschließend zwar lebend, aber vollkommen verstört wiedersah; der mordende Soldat, der nun in einer Gedenkstätte die Knochen und Schädel seiner Opfer bewacht; die junge Frau aus dem Kongo, die wegen ihrer schlanken, großen Figur und wegen ihrer schmalen Nase für eine Tutsi gehalten und durch die Straßen gejagt wurde; die Mutter, vor deren Augen ihre Kinder in den Tod geprügelt wurden; die Witwe, die just den Mörder ihrer Familie heiratete. Die menschlichen Dramen, verdeutlicht Tadjo, vollziehen sich in Ruanda heute womöglich nicht minder brutal, und auch die Zukunft des Landes ist vorerst nicht ohne das Trauma des Völkermords vorstellbar.

Tadjo, die bereits drei Romane, ein Dutzend Kinderbücher und zwei Gedichtbände veröffentlichte, hat Der Schatten Gottes in einem verblüffend melodisch-poetischen Rhythmus verfasst, so dass sogar die Stimmen der Toten gelassen aus dem Jenseits herüberzuhallen scheinen. Beides, die nüchtern beobachtende, nicht urteilende Perspektive der Autorin und ihr bedachter, versöhnlicher Tonfall schaffen eine angenehme Distanz, die das Geschehen zwar vor Augen führt, aber nicht nach einem Richter verlangt. Und auch deshalb berührt die Lektüre dieses Buches so sehr, weil schlaglichtartig die Gesichter von Menschen erkennbar werden, weil das Unvorstellbare am Beispiel von "echten" Personen in einer greifbaren, nachzuempfindenen Dimension konkretisiert wird.

Der Schatten Gottes entstand in Folge eines Projekts, das im französischen Lille von den Verantwortlichen des Festivals Fest'Afrique bereits 1998 initiiert worden war. Das Schweigen der afrikanischen Autoren angesichts der Massaker in Ruanda veranlasste die Organisatoren damals, zehn Schriftsteller aus Afrika nach Ruanda einzuladen und unter dem Motto "Ruanda: Schreiben gegen das Vergessen" zum Verfassen eines nicht-journalistischen Textes zu bewegen.

Von diesen zehn Autoren haben bereits acht ihre Werke vorgestellt - in Lille und Paris und auch in Kigali. Ihre Namen: Boubacar Boris Diop (Senegal), Nocky Djedanoum (Tschad), Monique Ilboudo (Burkina Faso), Koulsy Lamko (Tschad), Tierno Monénembo (Guinea), Véronique Tadjo (Elfenbeinküste), Jean-Marie Vianney Rurangwa (Ruanda), Abdourahman A. Waberi (Dschibuti). Der einzige anglophone Teilnehmer des Projekts, der kenianische Autor Meja Mwangi, hat das baldige Erscheinen seines Romans Poor man's Hell* angekündigt, und auf Benjamin Sehenes Beitrag wartet man ebenfalls noch.

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Véronique Tadjo

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Nicht alle dieser Autoren-Gruppe sind in Deutschland unbekannt. Von Mwangi liegt schon ein halbes Dutzend Romane in deutscher Übersetzung vor, und Monénembo ist mit zwei Büchern hier zu Lande vertreten. So könnte, was zu wünschen ist, noch der eine oder der andere Titel neben Tadjos Der Schatten Gottes den Weg nach Deutschland finden.

Véronique Tadjo: Der Schatten Gottes. Übersetzt von Sigrid Groß. Pete Hammer Verlag, Wuppertal 2001, 140 Seiten, EUR 12,90.

(Originaltitel: L'Ombre d'Imana)

* Inzwischen - 10/2009 - ist das Buch unter dem Titel The Big Chiefs (identischer Titel auch der dt. Ausgabe!)erschienen!
Die Rezension wurde im Jahr 2001 verfasst, für die Marabout-Seite übernommen 12/2003

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